Winter
bekomme die neue Flöte
oder ich ziehe aus!«, sagte etwas Ähnliches wie: »Ich weiß
ehrlich nicht, ob ich sie brauche – am Montag will ich noch ein
paar Leute fragen.«
Sie studiert an der Musikhochschule und hat im Hauptfach
Flöte und Harfe belegt. Beim Essen erzählte sie uns von ihrer
Heimfahrt und wie mehrere von ihnen in der Straßenbahn zum
Bahnhof angefangen hätten a capella zu singen und der Fahrer
anhielt und sie alle rausschmiss und deshalb von den
Passagieren ausgebuht wurde. Aber er gab nicht nach, und als
Jess und ihre Freunde ausstiegen und eigens für den Fahrer
»You’ve Lost that Loving Feeling« sangen, applaudierten die
anderen Fahrgäste.
Und auf einmal singen Jess und ich »You’ve Lost that
Loving Feeling«, entdecken, dass wir beide Kasey Chambers
lieben, und singen schließlich das ganze Repertoire durch,
angefangen von »The Captain« bis hin zu »This Flower« und
dann stellt Mrs McGill das Nasi Goreng auf den Tisch. Mit einem Mund voll Reis singt es sich nicht leicht. »Die Musik von heute«, sagte Mr McGill, »ist doch bloß ein
Remake der Songs, die wir schon gehört haben. Kommt alles
wieder.«
»Ja, klar, Dad, das wandelnde Musiklexikon«, sagte Jess.
»Als ob du wüsstest, welche Musik wir hören.«
»Na, dann sag mir doch, was momentan die Nummer eins in
den Top 40 ist.«
»Dad!« Jessica spießte mit ihren Stäbchen eine Garnele auf
und hielt sie hoch, als hätte sie sie mit der Harpune gefangen.
»Allein, wie du redest! Top 40? Das sagt doch kein Mensch
mehr.«
»Triple J’s Hottest 100, das ist was ganz anderes«, warf ich
ein.
»Genau. J ist fantastisch.«
»Okay, meinetwegen. Aber welches Lied ist zur Zeit gerade
der Hit?«, fragte Mr McGill. »Ich gehe jede Wette ein, es ist
ein Remake aus den Sechzigern oder Siebzigern.«
»Hmm. Wie wär’s mit ›When Your Baby Says it’s Time to
Come, You Know it’s Time to Go‹?«
»Jessica!«, entrüstete sich Mrs McGill.
»Ich gebe zu«, sagte Mr McGill, »das kenne ich nicht.« »Ja, weil ich es gerade erfunden habe.«
Nach dem Essen verschwanden Jessica und ich für den Rest
des Abends in ihrem Zimmer, wo ich sang und Jess zwischen
Harfe und Flöte wechselte. Wir versuchten einen Text für
›When Your Baby Says it’s Time to Come, You Know it’s Time to Go‹ zu erfinden, was ziemlich komisch war, und ich
wünschte, ich hätte mitgeschrieben.
Der ganze Abend war wunderbar und nach dem Horrortag
fiel mir ein riesengroßer Stein vom Herzen. Über meine Eltern
wurde nicht gesprochen, doch dazu wäre ich auch gar nicht in
Stimmung gewesen.
Mr McGill brachte mich schließlich nach Hause. Es war halb
eins, als ich ins Bett kam. Bis dahin war ich viel zu müde, um
mir Gedanken darüber zu machen, dass ich ganz allein war:
sechzehn Jahre alt und allein auf sechshundert Hektar Grund,
weit und breit nur Busch und Viehweiden.
Man kann sich also vorstellen, wie sehr ich mich freute,
Jessica so bald wiederzusehen.
»Hi«, sagte ich und sprang auf die Beine. »Wie bist du
hergekommen?«
»Geritten. Mann, sieh dir die Brombeeren an! Hast du die
heute Morgen ausgerissen?«
»Soll ich dir meine Narben zeigen?«
»Du meinst es wirklich ernst, was?«
Ich zuckte die Achseln, freute mich aber insgeheim über das
Kompliment. Immerhin war sie zwei Jahre älter als ich. »Soll ich dir helfen?«
»Machst du Witze? Nein, das könnte ich nicht verlangen. Die
Arbeit ist entsetzlich anstrengend und am Ende hast du so viele
Kratzer an den Händen, dass du nie wieder Harfe spielen
kannst.«
»Das Risiko geh ich ein. Außerdem stelle ich mir vor, dass es
Spaß macht.«
»Es hat tatsächlich was seltsam Befriedigendes.«
Wir gingen zur Scheune und holten noch ein Paar
Handschuhe und eine Schaufel. Auf dem Rückweg erzählte
mir Jess von ihrer tollen Idee. »Hör mal, möchtest du hier nicht
mit jemandem zusammen wohnen? Mir hängt es nämlich zum Hals heraus, daheim zu wohnen, aber was eigenes kann ich mir noch nicht leisten. Und gestern Abend hast du doch gesagt,
dass du das Haus so groß und leer findest…«
»Hej, das wäre echt cool! Ich fände das genial.«
»Untertags wäre ich nicht hier wegen der Schule, aber am
Abend und an den Wochenenden schon.«
»Kein Problem.«
Das war jedoch erst der Anfang. Jess ist ein so lieber Mensch.
»Und dann hab ich mir noch was überlegt. Wie wär’s, wenn
wir ein paar Sachen einstudieren und auf der Straße auftreten?
Wenn ich dich auf der Flöte oder Gitarre begleite, weil das
kann ich auch ganz gut, könnten
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