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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nicht als Eastender erkannte. Schon ehe er das Bauwerk erreichte, hörte er die Blaskapellen.
    Der Tower of London war ein Palast am Fluss, der seit achthundert Jahren Autorität und Unterdrückung symbolisierte. Er wurde von einem langen Wall aus blassem altem Stein umschlossen, der aussah, als hätten die Jahrhunderte im Londoner Regen ihm die Farbe ausgewaschen. Auf der Landseite lag vor der Außenmauer ein Park namens Tower Gardens; dort sammelten sichdie Faschisten. Lloyd schätzte, dass sie mittlerweile zweitausend Köpfe zählten. Sie waren in einer langen Reihe angetreten, die sich nach Westen bis in den Finanzdistrikt erstreckte. Hin und wieder stimmten sie einen rhythmischen Gesang an:
    Eins, zwei, drei, vier,
    raus mit den Juden hier!
    Hau ab, Jude! Hau ab, Jude!
    Raus mit den Juden hier!
    Sie führten britische Flaggen. Wie kann es sein, fragte sich Lloyd, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?
    Die Faschisten sahen beeindruckend militärisch aus mit ihren breiten schwarzen Ledergürteln und den schwarzen Hemden, als sie sich auf dem Rasen zu Marschkolonnen formierten. Die Offiziere trugen schmucke Uniformen: eine militärisch geschnittene schwarze Jacke, graue Reithosen, Schaftstiefel, eine schwarze Mütze mit glänzendem Schirm und eine rot-weiße Armbinde. Mehrere Motorradfahrer in Uniform fuhren lautstark auf und überbrachten Botschaften, wobei sie den Arm zum Faschistengruß hoben. Weitere Marschierer trafen ein, einige in gepanzerten Lieferwagen mit Maschendraht vor den Fensterscheiben.
    Das war keine Partei, das war eine Armee.
    Der Zweck des Schauspiels lag erkennbar darin, sich den Anschein von Autorität beizulegen. Die Faschisten wollten den Eindruck erwecken, als hätten sie ein Recht, Versammlungen aufzulösen und Gebäude zu räumen, in Häuser und Büros einzudringen und Menschen zu verhaften, sie in Gefängnisse und Lager zu zerren und zu verprügeln, zu verhören und zu foltern – so wie die SA es in Deutschland unter dem Nazi-Regime tat, das von Mosley und dem Eigentümer der Daily Mail , Lord Rothermere, so verehrt wurde.
    Sie wollten die Einwohner des Eastends einschüchtern, Menschen, deren Eltern und Großeltern sich aus Irland, Polen und Russland vor Unterdrückung und Pogromen hierher geflüchtet hatten.
    Würden Eastender auf die Straßen strömen und Widerstandleisten? Und was, wenn nicht? Was würden sich die Faschisten herausnehmen, wenn der heutige Aufmarsch wie geplant ablief?
    Lloyd schlenderte am Rand des Parks entlang, als wäre er einer von den gut hundert Schaulustigen. Von dem Platz gingen Nebenstraßen aus wie Speichen von einer Radnabe. Auf einer dieser Nebenstraßen näherte sich ein vertrauter, schwarz-cremefarbener Rolls-Royce. Der Chauffeur hielt, stieg aus und öffnete die Hintertür. Zu Lloyds Entsetzen stieg Daisy Peshkov aus dem Fond.
    Weshalb sie hier war, stand außer Frage: Sie trug eine maßgeschneiderte weibliche Variante der Faschistenuniform mit einem langen grauen Rock statt der Reithosen, und ihre hellen Locken ließen sich von der schwarzen Schirmmütze kaum bändigen. Sosehr Lloyd diese Uniform hasste – gegen seinen Willen fand er Daisy auch darin unwiderstehlich attraktiv.
    Er starrte sie an. Eigentlich hätte es ihn nicht überraschen dürfen: Daisy hatte zugegeben, dass sie Boy Fitzherbert mochte, und Boys politische Einstellung änderte daran eindeutig nichts. Aber dass Daisy die Faschisten in ihrem Angriff auf die jüdischen Londoner so offen unterstützte, ließ Lloyd endgültig erkennen, wie vollkommen fremd sie allem gegenüberstand, das in seinem Leben von Bedeutung war.
    Er hätte sich abwenden können, brachte es aber nicht über sich. Als Daisy mit eiligen Schritten in seine Richtung kam, vertrat er ihr den Weg. »Was, zum Teufel, machst du hier?«, fragte er schroff.
    »Ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen, Mr. Williams«, erwiderte sie. »Ich nehme nicht an, dass Sie mit uns marschieren möchten.« Sie war die Kühle in Person und siezte ihn wieder.
    »Begreifen Sie denn nicht, was für Leute das sind? Sie stören friedliche politische Versammlungen, sie schüchtern Journalisten ein, sie bringen ihre politischen Gegner ins Gefängnis. Sie sind Amerikanerin – wie können Sie gegen die Demokratie sein?«
    »Die Demokratie ist nicht notwendigerweise für jedes Land und zu jeder Zeit das geeignetste politische System.« Lloyd

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