Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Ethel. »Offenbar wurde es gestern in allen Synagogen verkündet.«
»Diese sogenannten Abgeordneten sind Jasager aus Golders Green«, entgegnete Bernie verächtlich. »Sie wurden noch nie von faschistischen Rowdys auf der Straße beschimpft.«
»Du bist in der Labour Party«, erwiderte Ethel anklagend. »Wir treten den Faschisten nicht auf der Straße entgegen. Wo bleibt deine Solidarität?«
»Und was ist mit meiner Solidarität zu meinen Mitjuden?«
»Du bist nur Jude, wenn es dir in den Kram passt. Und dich hat noch nie jemand auf der Straße beschimpft.«
»Trotzdem begeht Labour einen politischen Fehler.«
»Wenn du den Faschisten erlaubst, Gewalt zu provozieren, wird die Presse den Linken die Schuld daran geben, egal, wer wirklich mit den Gewalttätigkeiten angefangen hat.«
Lenny warf unüberlegt ein: »Wenn Mosleys Schläger eine Prügelei anfangen, dann kriegen sie, was sie verdienen.«
Ethel seufzte. »Überleg dir das gut, Lenny. Wer hat in unserem Land die meisten Waffen – du und Lloyd und die Labour Party oder die Konservativen, die das Militär und die Polizei hinter sich haben?«
Lenny schwieg. Das hatte er offensichtlich nicht bedacht.
Lloyd sagte zornig: »Wie kannst du so reden, Mam? Du warst vor drei Jahren in Berlin. Du hast doch gesehen, wie es dort abgelaufen ist. Die deutsche Linke hat versucht, dem Faschismus friedlich entgegenzutreten – und sieh nur, was mit ihr passiert ist.«
»Die deutschen Sozialdemokraten haben mit den Kommunisten keine Volksfront gebildet, deshalb konnten sie beseitigt werden«, warf Bernie ein, der immer noch wütend war, dass der Ortsverein der Labour Party ein Angebot der Kommunisten abgelehnt hatte, gemeinsam gegen den Marsch vorzugehen. »Hätten SPD und Kommunisten zusammengestanden, hätten sie vielleicht eine Chance besessen.«
»Ein Bündnis mit den Kommunisten ist gefährlich«, sagte Ethel.
Nicht nur sie und Bernie waren in dieser Sache uneins; die Frage spaltete die gesamte Labour Party. Lloyd fand, dass Bernie recht hatte. »Wir müssen alles aufbieten, um den Faschismus zu besiegen«, sagte er, fügte jedoch diplomatisch hinzu: »Aber Mam hat recht. Es wäre für alle das Beste, wenn dieser Tag ohne Gewalttätigkeiten verläuft.«
»Es wäre am besten, wenn ihr alle zu Hause bleibt und die Faschisten mit den üblichen Mitteln demokratischer Politik bekämpft«, sagte Ethel.
»Du hast versucht, mit den üblichen Mitteln demokratischer Politik gleiche Bezahlung für Frauen durchzusetzen und bist damit gescheitert«, erwiderte Lloyd. Erst im April hatten die weiblichen Labour-Abgeordneten einen Gesetzesantrag eingebracht, der weiblichen Staatsbediensteten gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit garantieren sollte. Der Antrag war im von Männern dominierten Unterhaus abgewiesen worden.
»Man gibt nicht jedes Mal, wenn man eine Abstimmung verliert, die Demokratie auf«, sagte Ethel.
Das Problem war nur, dass diese Meinungsverschiedenheiten die antifaschistischen Kräfte genauso tödlich schwächen konnten,wie es in Deutschland geschehen war. Heute stand eine harte Prüfung bevor. Die Parteien konnten versuchen, die Menschen zu führen, aber wem sie letztlich folgten, entschieden sie selbst. Würden sie zu Hause bleiben, wie die zaghafte Labour Party und der Jewish Chronicle es forderten? Oder würden sie zu Tausenden auf die Straßen gehen und Nein zum Faschismus sagen? Am Ende des Tages würden sie mehr wissen.
Es klopfte an der Hintertür. Sean Dolan, ihr Nachbar, kam in dem Anzug herein, den er immer zur Kirche trug. »Ich stoße nach dem Gottesdienst zu euch«, sagte er zu Bernie. »Wo treffen wir uns?«
»Gardiner’s Corner, spätestens um zwei«, antwortete Bernie. »Hoffentlich bekommen wir genügend Leute zusammen, um die Faschisten schon dort aufzuhalten.«
»Jeder Hafenarbeiter im ganzen Eastend steht hinter euch«, sagte Sean mit Nachdruck.
»Warum eigentlich?«, fragte Millie. »Die Faschisten haben doch nichts gegen Sie, oder?«
»Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern, meine Kleine, aber die Juden haben uns immer unterstützt«, erklärte Sean. »Beim Hafenarbeiterstreik von 1912, ich war damals erst neun Jahre alte, konnte mein Vater kein Essen mehr auf den Tisch bringen. Mein Bruder und ich wurden von Mrs. Isaacs aufgenommen, der Frau des Bäckers auf der New Road, Gott segne ihr großes Herz! Hunderte von Schauermannskindern wurden damals von jüdischen Familien versorgt. 1926 war es genauso. Wir lassen die
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