Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
dreckigen Faschisten nicht auf unsere Straßen … entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Mrs. Leckwith.«
Lloyd fasste neuen Mut. Im Eastend lebten Tausende von Hafenarbeitern. Wenn die meisten davon kamen, wuchsen die Reihen der Antifaschisten gewaltig an.
Von der Straße drang eine megafonverstärkte Stimme herein. »Mosley, bleib weg von Stepney!«, rief ein Mann. »Versammelt euch um zwei in Gardiner’s Corner.«
Lloyd trank seinen Tee aus und stand auf. Heute sollte er als Beobachter den Weg der faschistischen Marschierer im Auge behalten und Bernies Jüdischen Volksrat auf dem Laufenden halten. Seine Hosentaschen waren schwer von großen braunen Pennymünzen für öffentliche Fernsprecher. »Ich muss jetzt los«, sagte er. »Die Faschisten sammeln sich wahrscheinlich schon.«
Seine Mutter erhob sich und folgte ihm zur Tür. »Lass dich nicht in einen Kampf verwickeln«, ermahnte sie ihn. »Vergiss nicht, was in Berlin passiert ist.«
»Ich pass schon auf mich auf«, erwiderte Lloyd.
Ethel versuchte, einen scherzhaften Ton anzuschlagen. »Ohne Zähne wirst du deinem reichen amerikanischen Mädchen nicht gefallen.«
»Sie mag mich sowieso nicht.«
»Das glaube ich dir nicht. Welches Mädchen könnte dir widerstehen?«
»Mir passiert schon nichts, Mam.«
»Ich sollte mich wohl damit zufriedengeben, dass du nicht nach Spanien gehst.«
»Jedenfalls nicht heute.« Lloyd küsste seine Mutter und verließ das Haus.
Es war ein heller Herbstmorgen und zu warm für die Jahreszeit. Mitten auf der Nutley Street hatten mehrere Männer eine provisorische Tribüne errichtet; einer von ihnen sprach durch das Megafon. »Leute vom Eastend, wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie eine Meute von Antisemiten uns beleidigt!« Lloyd erkannte den Sprecher als einen hiesigen Funktionär der Nationalen Erwerbslosenbewegung. Die Weltwirtschaftskrise hatte Tausende jüdische Schneider den Job gekostet. Jeden Tag meldeten sie sich auf dem Arbeitsamt in der Settle Street.
Noch ehe Lloyd zehn Schritte getan hatte, kam Bernie ihm nach und gab ihm eine Papiertüte mit Glasmurmeln, wie Kinder sie zum Spielen benutzten. »Ich bin schon auf vielen Kundgebungen gewesen«, sagte er. »Wenn die berittene Polizei auf die Menge vorrückt, wirf den Pferden die Murmeln vor die Hufe.«
Lloyd lächelte. Sein Stiefvater war ein Friedensstifter, aber kein Weichling.
Doch Lloyd hatte Bedenken. Mit Pferden hatte er nie viel zu tun gehabt, aber sie schienen ihm geduldige, harmlose Tiere zu sein. Die Vorstellung, sie gewaltsam zu Fall zu bringen, gefiel ihm nicht.
Bernie deutete Lloyds Gesichtsausdruck richtig. »Lieber soll ein Pferd stürzen, als dass mein Junge niedergetrampelt wird.«
Lloyd steckte die Murmeln in die Tasche und sagte sich, dass es ihn noch lange nicht verpflichtete, sie auch zu benutzen.
Mit Genugtuung sah er die Scharen von Menschen auf den Straßen. Es gab noch weitere Anzeichen, die ihm Mut machten. Wohin er auch blickte, war der Slogan »Sie werden nicht durchkommen« in Englisch und Spanisch mit Kreide an die Wände geschrieben. Die Kommunisten waren in Massen erschienen und verteilten Flugblätter. Rote Flaggen hingen von vielen Fensterbänken. Eine Gruppe von Männern mit Orden aus dem Großen Krieg trug ein Spruchbanner mit der Aufschrift »Jüdischer Veteranenverband«. Die Faschisten hassten es, wenn man sie daran erinnerte, wie viele Juden für Großbritannien gekämpft hatten. Allein fünf jüdische Soldaten hatte die höchste Tapferkeitsauszeichnung des Landes erhalten, das Victoria-Kreuz.
In Lloyd stieg die Hoffnung auf, dass sie vielleicht doch zahlreich genug sein würden, um den Aufmarsch der Faschisten zu stoppen.
Gardiner’s Corner war eine große Kreuzung, von der Straßen in fünf Richtungen abgingen. Sie war benannt nach dem schottischen Bekleidungsgeschäft Gardiner und Company, das in einem Eckgebäude mit auffälligem Uhrturm untergebracht war. Als Lloyd dort ankam, sah er sofort, dass mit Handgreiflichkeiten gerechnet wurde. Mehrere Erste-Hilfe-Stationen waren aufgebaut worden, und Hunderte von freiwilligen Helfern in den Uniformen der St. John Ambulance standen bereit. In den Nebenstraßen parkten Krankenwagen. Natürlich hoffte Lloyd, dass es nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen kam; zugleich war er der Meinung, dass man es lieber auf einen Kampf ankommen lassen sollte, als den Faschisten das Feld zu räumen.
Er nahm einen Umweg und näherte sich dem Tower aus Nordwesten, damit man ihn
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