Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
war schlimmer als eine faschistische Kundgebung: Es war eine faschistische Kundgebung unter der Schirmherrschaft der Polizei. Was für eine schreckliche Botschaft an die Juden des Eastends!
Auf der Mansell Street entdeckte Lloyd einen Streifenpolizisten, den er kannte, Henry Clark. »Hallo, Nobby«, sagte er. Aus irgendeinem Grund wurden alle Clarks mit »Nobby« angesprochen. »Einer von euch hat mir gerade den Hitlergruß gezeigt.«
»Die sind nicht von hier«, erwiderte Nobby leise, als würde er Lloyd ein Geheimnis anvertrauen. »Die leben nicht mit Juden, so wie ich. Sie wollen mir nicht glauben, dass die Juden gesetzestreue Bürger sind, obwohl es natürlich auch ein paar jüdische Gauner und Unruhestifter gibt.«
»Und der Hitlergruß?«
»War vielleicht ein Scherz.«
Lloyd konnte das nicht glauben.
Er verabschiedete sich von Nobby und ging weiter. Die Polizei bildete Kordons, wo die Nebenstraßen in das Umfeld von Gardiner’s Corner führten.
Lloyd ging in einen Pub, in dem es ein Telefon gab – am Vortag hatte er erkundet, wo er Fernsprecher finden konnte – und berichtete Bernie, dass sich wenigstens fünftausend Polizisten in der Umgebung aufhielten. »Mit so vielen Bullen werden wir nicht fertig«, fügte er traurig hinzu.
»Sei dir da nicht so sicher«, erwiderte Bernie. »Wirf mal einen Blick auf Gardiner’s Corner.«
Lloyd suchte sich einen Weg um den Polizeikordon herum und schloss sich der Gegenkundgebung an. Erst als er vor Gardiner’s Corner auf die Straßenmitte kam, begriff er, was für eine riesige Menge sich dort eingefunden hatte. Eine so große Menschenansammlung hatte er noch nie gesehen.
Die Kreuzung war verstopft, aber das war noch nicht alles. So weit das Auge reichte, erstreckte sich die Menschenmenge auf der Whitechapel High Street nach Osten. Auch die Commercial Road, die nach Südosten führte, war verstopft. Auf der Leman Street, wo sich ein Polizeirevier befand, gab es ebenfalls kein Durchkommen.
Das müssen mindestens hunderttausend Menschen sein, dachte Lloyd. Am liebsten hätte er seinen Hut in die Luft geworfen undlaut gejubelt. Die Eastender waren in voller Stärke auf die Straßen gekommen, um die Faschisten zurückzuschlagen. Es konnte keinen Zweifel geben, auf welcher Seite sie standen.
Mitten auf der Kreuzung stand eine von Fahrer und Fahrgästen verlassene Straßenbahn.
Nichts und niemand konnte sich einen Weg durch diese Menge bahnen, erkannte Lloyd mit wachsender Zuversicht.
Er sah, wie ihr Nachbar Sean Dolan auf einen Laternenpfahl kletterte und oben eine rote Flagge befestigte. Die Blaskapelle der Jewish Lads’ Brigade spielte – wahrscheinlich ohne Wissen der geachteten konservativen Organisatoren des Clubs. Lloyd hob den Blick, als ein Tragschrauber der Polizei über die Menge hinwegflog.
Vor den Schaufenstern von Gardiner’s traf er auf seine Schwester Millie und deren Freundin Naomi Avery. Lloyd wollte auf keinen Fall, dass Millie in Gewalttätigkeiten verwickelt wurde; bei dem bloßen Gedanken wurde ihm flau im Magen. »Weiß Dad, dass du hier bist?«, fragte er tadelnd.
»Sei nicht blöd«, erwiderte sie unbekümmert.
Lloyd war erstaunt, dass sie gekommen war. »Du hast doch sonst nichts für Politik übrig. Ich dachte, du interessierst dich mehr für das Geldverdienen.«
»Stimmt ja auch. Aber das hier ist was anderes.«
Lloyd wollte gar nicht daran denken, wie Bernie reagieren würde, wenn Millie etwas zustieß. »Wirklich, du solltest nach Hause gehen.«
»Warum?«
Er schaute sich um. Die Menge wirkte ruhig und friedfertig. Die Polizei stand noch ein gutes Stück entfernt, und die Faschisten waren nirgends zu sehen. Heute würde es keinen Marsch durch das jüdische Viertel geben, so viel stand fest. Mosleys Leute konnten sich keinen Weg durch hunderttausend Menschen bahnen, die entschlossen waren, sie aufzuhalten; die Polizei wäre verrückt gewesen, hätte sie den Faschisten auch nur den Versuch gestattet. Es war also kaum damit zu rechnen, das Millie etwas passierte.
In dem Augenblick, als Lloyd zu dieser Schlussfolgerung gelangte, änderte sich alles.
Pfeifen schrillten. Als Lloyd in die Richtung blickte, aus der das Geräusch gekommen war, entdeckte er die berittene Polizei, die ineiner bedrohlichen Reihe angerückt war. Die Pferde stampften mit den Hufen und schnaubten vor Erregung. Die Polizisten hatten lange Schlagstöcke gezückt, die wie Schwerter geformt waren. Sie schienen sich zum Angriff bereit zu machen. Das konnte
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