Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Abreise hinauszögert. Er hatte den Leuten gesagt, er wolle warten, bis seine Eltern sich beruhigt hätten; in Wirklichkeit ging ihm Daisy Peshkov noch immer nicht aus dem Sinn. Nach wie vor träumte er davon, Boy Fitzherbert auszustechen. Es war hoffnungslos – Daisy beantwortete nicht einmal seine Briefe –, aber Lloyd konnte sie nicht vergessen.
Inzwischen hatten sich Großbritannien, Frankreich und die USA mit dem Deutschen Reich und Italien auf eine Nichtinterventionspolitik gegenüber Spanien verständigt. Keiner dieser Staaten würde einer Seite Waffen liefern. Das allein brachte Lloyd in Rage: Demokratien sollten doch wohl eine gewählte Regierung unterstützen? Aber schlimmer noch, Italien und Deutschland brachen das Abkommen täglich. Auf den zahlreichen öffentlichen Versammlungen, die in diesem Herbst in ganz Großbritannien stattfanden, um über die Lage in Spanien zu diskutieren, wiesen Lloyds Mutter und Onkel Billy immer wieder darauf hin. Earl Fitzherbertverteidigte als verantwortlicher Minister standhaft die Politik der Regierung und führte an, die spanische Regierung dürfe keine Waffenlieferungen erhalten, da die Gefahr bestehe, dass sie zum Kommunismus umschwenke.
In einer beißenden Rede hatte Ethel diese Worte als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bezeichnet: Die einzige Nation, die bereit sei, die rechtmäßige Regierung Spaniens zu unterstützen, sei die Sowjetunion, und selbstverständlich würden die Spanier sich dem einzigen Land auf der Welt annähern, das ihnen zu Hilfe kam.
In Wahrheit waren die Konservativen der Ansicht, die Spanier hätten gefährliche linksextreme Volksvertreter gewählt. Männer wie Earl Fitzherbert hätten der spanischen Regierung keine Träne nachgeweint, wäre sie gewaltsam gestürzt und durch Rechtsextreme ersetzt worden.
Lloyd schäumte vor hilfloser Wut.
Nun aber hatte sich die Chance ergeben, den Faschismus im eigenen Land zu bekämpfen.
»Es ist absurd«, hatte Bernie vor einer Woche gesagt, als der Aufmarsch der British Union of Fascists angekündigt wurde. »Die Polizei muss diese Leute zwingen, die Route zu ändern. Natürlich haben sie das Recht, aufzumarschieren, aber nicht in Stepney.« Die Polizei jedoch hatte erklärt, sie sei nicht ermächtigt, sich in eine legale politische Kundgebung einzumischen.
Eine Delegation, zu der auch Bernie, Ethel und die Bürgermeister von acht Londoner Stadtbezirken gehörten, hatte den Innenminister, Sir John Simon, ersucht, den Aufmarsch zu verbieten oder wenigstens umzuleiten. Doch auch Simon hatte erklärt, in dieser Sache machtlos zu sein.
Die Frage, was man unternehmen sollte, hatte die Arbeiterpartei, die jüdische Gemeinde und die Familie Williams gespalten.
Der Jüdische Volksrat gegen Faschismus und Antisemitismus, vor drei Monaten von Bernie und einigen anderen gegründet, hatte zu einer groß angelegten Gegenkundgebung aufgefordert, um die Faschisten von den jüdischen Straßen fernzuhalten. Ihr Slogan war die spanische Wendung »No pasarán« , was »Sie werden nicht durchkommen« bedeutete, der Ruf der antifaschistischen Verteidiger von Madrid. Der Rat war eine kleine Organisation mit einem großen Namen, die zwei Zimmer im Obergeschoss eines Hausesauf der Commercial Road belegte. Sie besaß nur zwei alte Schreibmaschinen sowie ein Vervielfältigungsgerät für Wachsmatrizen, fand aber im Eastend große Unterstützung. Binnen achtundvierzig Stunden hatte der Jüdische Rat unfassbare einhunderttausend Unterschriften für eine Petition gesammelt, den Aufmarsch der British Union of Fascists zu verbieten. Die Regierung unternahm trotzdem nichts.
Nur eine der größeren Parteien unterstützte die Gegendemonstration: die Kommunisten. Außerdem stand die kleine Unabhängige Arbeiterpartei, der Lenny angehörte, hinter dem Protest.
Ethel sagte: »Wie ich sehe, hat der Jewish Chronicle seinen Lesern geraten, heute nicht auf die Straße zu gehen.«
Nach Lloyds Meinung lag genau da das Problem: Zu viele Menschen vertraten die Ansicht, dass man sich am besten heraushielt. Damit aber gab man den Faschisten freie Hand.
Bernie, der zwar Jude, aber nicht religiös war, sagte zu Ethel: »Wie kannst du mir vorhalten, was der Jewish Chronicle schreibt? Er glaubt, dass Juden sich nicht gegen den Faschismus, sondern gegen den Antisemitismus stellen sollten. Was für einen politischen Sinn soll das ergeben?«
»Der Abgeordnetenausschuss der britischen Juden sagt das Gleiche wie der Chronicle« , beharrte
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