Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
hat ein Recht auf so viele Gaben.‹ Sie hob den kleinen Winston hoch und schüttelte ihn, sodass er die Gaben der Urteilskraft und der Klugheit verlor.«
Lloyd lächelte. »Sehr spitzzüngig, aber stimmt es auch?«
»Es ist etwas Wahres daran«, entgegnete Bernie. »Im letzten Krieg war Churchill für den Dardanellen-Feldzug verantwortlich, bei dem unsere Truppen eine schreckliche Niederlage erlitten haben. Jetzt hat er uns in das norwegische Abenteuer gedrängt – wieder ein Fehlschlag. Er ist ein guter Redner, neigt aber zum Wunschdenken.«
»In den Dreißigerjahren hatte er jedenfalls recht, als er für die Wiederbewaffnung eingetreten ist«, sagte Lloyd. »Damals war jeder dagegen, auch die Labour Party.«
»Churchill wird auch noch im Paradies, wenn der Löwe mit dem Lamm liegt, für die Wiederbewaffnung eintreten.«
»Aber wir brauchen jemanden mit einer aggressiven Ader. Wir brauchen einen Premierminister, der nicht winselt, sondern bellt.«
»Vielleicht geht dein Wunsch ja in Erfüllung. Die Stimmenzähler kommen zurück.«
Kurz darauf wurde das Ergebnis der Abstimmung bekanntgegeben. Mit Ja hatten 280, mit Nein 200 Abgeordnete gestimmt.Chamberlain hatte sich durchgesetzt. Im Saal kam es zu tumultartigen Szenen. Die Anhänger des Premierministers jubelten, die anderen forderten weiterhin lautstark seinen Rücktritt.
Lloyd war bitter enttäuscht. »Wie kann man diesen Mann im Amt halten wollen, nach allem, was geschehen ist?«
»Du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte Bernie, als der Premierminister den Saal verlassen hatte und der Lärm verebbt war. Mit einem Bleistift stellte er auf dem Rand einer Evening News Berechnungen an. »Die Regierung hat normalerweise eine Mehrheit von ungefähr zweihundertvierzig Stimmen. Diese Mehrheit ist auf achtzig Stimmen geschrumpft.« Er notierte Zahlen, addierte und subtrahierte. »Wenn ich grob schätze, wie viele Abgeordnete heute fehlen, würde ich sagen, dass ungefähr vierzig Anhänger der Regierung gegen Chamberlain gestimmt haben, weitere sechzig haben sich der Stimme enthalten. Das ist ein schrecklicher Schlag für einen Premierminister. Hundert seiner Parteifreunde haben kein Vertrauen zu ihm.«
»Aber genügt das, um ihn zum Rücktritt zu zwingen?«
Bernie breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Arme aus. »Ich weiß es nicht.«
Am nächsten Tag fuhren Lloyd, Ethel, Bernie und Billy mit dem Zug nach Bournemouth.
Im Waggon saßen Delegierte aus dem ganzen Land und diskutierten in den verschiedensten Dialekten, vom abgehackten schroffen Glasgow bis zum galoppierenden Cockney. Auf der ganzen Fahrt besprachen sie die Debatte des vergangenen Abends und die Zukunft des Premierministers. Wieder hatte Lloyd keine Gelegenheit, seine Mutter auf das Thema anzusprechen, das ihm nicht aus dem Kopf ging.
Wie die meisten Delegierten konnten auch Lloyd und die anderen sich die schicken Hotels auf den Klippen nicht leisten und quartierten sich in einer Pension am Ortsrand ein. Am Abend gingen sie zu viert in einen Pub und setzten sich in eine ruhige Nische. Bernie spendierte eine Runde. Ethel überlegte laut, wie es wohl ihrer Freundin Maud in Berlin ergehe. Sie erhielt keineNachrichten mehr, denn mit der Kriegserklärung war der Postverkehr zwischen Großbritannien und dem Großdeutschen Reich eingestellt worden.
Lloyd, der endlich seine Chance gekommen sah, trank sein Bier an und sagte: »Ich möchte gern mehr über meinen wirklichen Vater wissen.«
»Bernie ist dein Vater«, erwiderte Ethel ungehalten.
Sie wich ihm schon wieder aus! Lloyd unterdrückte den Zorn, der in ihm aufwallte. »Das brauchst du mir nicht zu sagen«, entgegnete er. »Und ich brauche Bernie nicht zu sagen, dass ich ihn wie einen Vater liebe, denn das weiß er auch so.«
Bernie klopfte ihm auf die Schulter – eine ungelenke, aber aufrichtige Bezeugung seiner Zuneigung.
Lloyd fuhr mit Nachdruck fort: »Aber ich bin neugierig, was Teddy Williams angeht.«
»Wir müssen über die Zukunft reden«, warf Billy ein, »nicht über die Vergangenheit. Wir haben Krieg.«
»Ganz recht, wir haben Krieg«, versetzte Lloyd. »Deshalb möchte ich jetzt Antworten auf meine Fragen. Ich will nicht warten, weil ich schon bald ins Feld ziehe, und ich möchte nicht unwissend sterben.« Dieses Argument war nicht zu widerlegen.
»Du weißt bereits, was es zu wissen gibt«, sagte Ethel, blickte ihm dabei aber nicht in die Augen.
»Nein, das weiß ich eben nicht!« Lloyd zwang sich zur
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