Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
deutsche Wehrmacht in Holland, Belgien und Luxemburg ein.
Lloyd hörte die Nachricht im Radio, als er mit seinen Eltern und Onkel Billy in der Pension beim Frühstück saß. Die Invasionüberraschte ihn nicht: Jeder in der Army war der Ansicht gewesen, dass sie unmittelbar bevorstand.
Viel stärker beschäftigte ihn die Enthüllung des vergangenen Abends. In der Nacht hatte er stundenlang wach gelegen, verärgert, dass man ihn so lange in die Irre geführt hatte, und zugleich bestürzt darüber, dass er der Sohn eines erzkonservativen adligen Appeasers sein sollte – der außerdem verrückterweise der Schwiegervater der bezaubernden Daisy war.
»Wie konntest du nur auf ihn hereinfallen?«, hatte er seine Mutter im Pub gefragt.
»Sei kein Heuchler«, hatte sie schroff erwidert. »Du warst doch auch verrückt nach deiner reichen Amerikanerin, und die hat einen Faschisten geheiratet.«
Lloyd wollte entgegnen, dass das etwas anderes sei, erkannte dann aber, dass es Augenwischerei gewesen wäre. Wie immer seine Beziehung zu Daisy sich heute darstellte, es bestand kein Zweifel, dass er sie geliebt hatte, und Liebe war nicht mit Vernunft zu erklären. Und wenn er selbst einer irrationalen Leidenschaft erliegen konnte, dann auch seine Mutter. Es war ihnen sogar im gleichen Alter widerfahren: Sie waren beide einundzwanzig gewesen.
Lloyd war allerdings der Meinung, dass Ethel ihm von Anfang an die Wahrheit hätte sagen müssen, doch auch dagegen konnte sie ein Argument ins Feld führen: »Wie hättest du als kleiner Junge reagiert, wenn ich dir gesagt hätte, dass du der Sohn eines reichen Mannes bist, eines Earls? Nicht lange, und du hättest damit vor den anderen Jungen auf der Schule geprahlt. Überleg mal, wie sie dich für deine kindliche Fantasie verspottet hätten. Wie sie dich gehasst hätten für deine Wichtigtuerei.«
»Aber du hättest es mir irgendwann später sagen können!«
»Kann schon sein«, hatte Ethel müde erwidert, »aber der richtige Augenblick schien nie zu kommen.«
Bernie war vor Entsetzen schneeweiß geworden, doch er erholte sich rasch und verfiel wieder in sein gewohntes Phlegma. Er könne verstehen, weshalb Ethel ihn nie eingeweiht habe, sagte er. »Ein Geheimnis, das zwei kennen, ist kein Geheimnis mehr.«
Lloyd fragte Ethel, welches Verhältnis sie heute zum Earl habe. »Du siehst ihn sicher oft, nicht wahr?«
»Nein, nur ganz selten. Die Peers sind im Westminster Palaceunter sich. Sie haben eigene Restaurants und Bars. Unsereins sieht sie eigentlich nur nach vorheriger Terminabsprache.«
In dieser Nacht war Lloyd zu schockiert und verstört, um ausdrücken zu können, was er empfand. Sein Vater war Earl Fitzherbert – der Aristokrat, der Tory, Boys Vater, Daisys Schwiegervater. Sollte er deswegen traurig sein, wütend, vielleicht sogar an Selbstmord denken? Das alles wühlte ihn so sehr auf, dass er am ganzen Körper zitterte.
Die Frühnachrichten waren auch nicht dazu angetan, Lloyds gedrückte Stimmung zu heben.
In den frühen Morgenstunden hatte die deutsche Wehrmacht einen Blitzschlag nach Westen geführt. Obwohl man diesen Angriff erwartet hatte, war es den alliierten Nachrichtendiensten trotz größter Mühe nicht gelungen, im Vorfeld das Datum des deutschen Angriffs zu erfahren. Die Streitkräfte der kleinen Staaten waren völlig überrascht worden. Dennoch wehrten sie sich tapfer. Premierminister Chamberlain hatte eine Kabinettssitzung einberufen, die in diesen Minuten stattfand. Das französische Heer, verstärkt durch zehn britische Divisionen, die bereits in Frankreich standen, hatte längst einem Plan zur Abwehr einer solchen Invasion zugestimmt, und dieser Plan war nun automatisch in Kraft getreten. Alliierte Verbände hatten von Westen aus die holländische und belgische Grenze zu Frankreich überschritten, um den deutschen Vormarsch aufzuhalten.
»Das wird wahrscheinlich stimmen«, sagte Onkel Billy. »Aber die BBC würde es so oder so behaupten.«
Die bedrückenden Neuigkeiten lasteten Lloyd und seiner Familie schwer auf der Seele. Die Williams’ bestiegen einen Bus ins Stadtzentrum und fuhren zum Bournemouth Pavilion, wo die Parteiversammlung stattfand.
Dort hörten sie das Neuste aus Westminster. Chamberlain klammerte sich noch immer an die Macht. Billy erfuhr, dass der Premierminister dem Labour-Chef Clement Attlee einen Ministerposten in seinem Kabinett angeboten hatte, um die Regierungskoalition auf die drei großen Parteien auszuweiten.
Die Aussicht
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