Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
ausnahmsweise nicht zu verantworten hat.«
»Das sehe ich anders«, sagte Lloyd. »Ich finde, der Premierminister ist letztlich für alles verantwortlich. Das ist es doch, was Führerschaft ausmacht.«
Bernie lächelte schief. Lloyd wusste, was er dachte: dass junge Leute alles zu sehr vereinfachen. Doch es sprach für Bernie, dass er kein Wort darüber verlor.
Die Debatte verlief anfangs lautstark, doch es wurde still, als der frühere Premierminister, David Lloyd George, sich erhob. Lloyd, der nach diesem Mann genannt war, achtete ihn sehr. Mit siebenundsiebzig Jahren war Lloyd George ein weißhaariger, altgedienter Staatsmann und sprach mit der Autorität eines Politikers, der den Großen Krieg gewonnen hatte. Und er war gnadenlos. »Es geht nicht darum, wer die Freunde des Premierministers sind«, stellte er mit vernichtendem Sarkasmus das Offensichtliche fest. »Es geht um viel mehr.«
Wieder fühlte Lloyd sich ermutigt, als sowohl von den Konservativen als auch von der Opposition zustimmende Rufe zu hören waren. Chamberlains Schicksal schien besiegelt zu sein.
»Der Premierminister hat um Opfer gebeten«, fuhr Lloyd George fort. Sein nasaler North-Wales-Dialekt schien seine Verachtung noch schärfer herauszustellen. Begleitet vom Jubel der Opposition rief er: »In diesem Krieg kann nichts mehr zu einem Sieg beitragen als Chamberlains Rücktritt!«
Um dreiundzwanzig Uhr begann die Abstimmung.
Das System der Stimmabgabe war umständlich. Statt die Hände zu heben oder Zettel in einen Kasten zu schieben, mussten die Abgeordneten den Saal verlassen und wurden gezählt, sobald sie die eine oder andere Lobby durchquerten – die eine für »Ja«, die andere für »Nein«. Der Vorgang nahm fünfzehn bis zwanzig Minuten in Anspruch. Wie Lloyds Mutter einmal gesagt hatte, konnte solch ein System nur von Männern erdacht worden sein, die nicht genug zu tun hatten. Sie war sicher, dass man es bald abschaffen würde.
Lloyd wartete wie auf heißen Kohlen. Er hoffte auf den Sturz Chamberlains, konnte sich aber keineswegs sicher sein.
Um sich abzulenken, dachte er über Daisy nach, was stets eine angenehme Beschäftigung für ihn war. Wie eigenartig die letzten vierundzwanzig Stunden auf Tŷ Gwyn verlaufen waren. Erst die knappe Mitteilung »Bibliothek«; dann das hastige Gespräch, als Daisy ihn in die Gardeniensuite bestellt hatte; dann eine ganze Nacht des Wartens in Kälte und Verwirrung auf eine Frau, die sich nicht zeigte. Bis um sechs Uhr morgens war Lloyd in der Suite geblieben, enttäuscht und deprimiert, aber nicht bereit aufzugeben, bis er sich waschen, rasieren, die Kleidung wechseln und seinen Koffer packen musste.
Irgendetwas war Daisy dazwischengekommen. Oder hatte sie es sich anders überlegt? Was hatte sie überhaupt beabsichtigt? Sie hatte gesagt, sie wolle ihm etwas mitteilen. Was konnte sie ihm Weltbewegendes anvertrauen wollen, das diesen ganzen Aufwand rechtfertigte? Lloyd seufzte. Er würde bis zum nächsten Dienstag warten müssen, ehe er Daisy fragen konnte.
Seinen Eltern hatte er nichts davon erzählt, dass Daisy auf Tŷ Gwyn war, weil sie ihn dann nach seiner Beziehung zu ihr gefragt hätten. Und was hätte er ihnen darauf antworten sollen? Er war sich über die Beziehung zu Daisy ja selbst nicht im Klaren. Hatte er sich in eine verheiratete Frau verliebt? Er wusste es nicht. Was empfand Daisy für ihn? Auch diese Frage konnte er nicht beantworten. Am ehesten, überlegte er, waren Daisy und er gute Freunde, die die Gelegenheit versäumt hatten, sich ineinander zu verlieben. Und das wollte Lloyd vor niemandem eingestehen, denn es erschien ihm unerträglich endgültig.
»Was meinst du, wer Premierminister wird, wenn Chamberlain abtritt?«, fragte er Bernie.
»Der Favorit ist Halifax.« Lord Halifax war der derzeitige Außenminister.
»Was?«, rief Lloyd entgeistert. »In Zeiten wie diesen können wir doch keinen Earl zum Premierminister machen! Außerdem ist auch Halifax ein Beschwichtigungspolitiker. Er ist nicht besser als Chamberlain.«
»Das sehe ich genauso. Aber wen gibt es sonst?«
»Wie wäre es mit Churchill?«
»Weißt du, was Stanley Baldwin mal über Churchill gesagt hat?« Baldwin, ein Konservativer, war Chamberlains Vorgänger im Amt des Premierministers gewesen. »Als Winston geboren wurde, schwirrten zahlreiche Feen mit Gaben zu seiner Wiege: die Gabe der Vorstellungskraft, der Wortgewandtheit, des Fleißes, des Könnens. Dann aber kam eine Fee und sagte: ›Niemand
Weitere Kostenlose Bücher