Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Mann.
»Warum?«
»Er trauert. Genau das tust du auch.«
»Ich verstehe nicht …«
»Schau einfach.«
Eine Minute später stand der junge Mann auf, wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab und ging davon.
»Jetzt hat er seinen Frieden«, sagte Wolodja. »Darum geht es beim Trauern. Dass man sich anschließend nur besser fühlt.«
»Du glaubst, ich bohre nur deshalb wegen der ermordeten Kinder nach, damit ich mich besser fühle?«
Wolodja schaute ihm in die Augen. »Ich meine das nicht als Kritik«, sagte er. »Du willst die Wahrheit herausfinden und sie in die Welt hinausschreien. Aber denk mal ganz nüchtern darüber nach. Du kannst dieses Morden nur beenden, indem du das Regime zu Fall bringst. Und das geht nur, wenn die Nazis von der Roten Armee besiegt werden.«
»Mag sein …«
Wolodja erkannte hoffnungsvoll, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Mag sein?«, erwiderte er. »Wen gibt es denn sonst? Die Briten sind in die Knie gezwungen und kämpfen verzweifelt gegen die Luftwaffe. Die Amerikaner sind an Europa nicht interessiert, und alle anderen auf dem Kontinent unterstützen die Faschisten.« Er legte Werner die Hand auf die Schulter. »Die Rote Armee ist deine einzige Hoffnung, mein Freund. Wenn wir verlieren, werden die Nazis noch in tausend Jahren behinderte Kinder ermorden – und Juden, Kommunisten, Homosexuelle …«
»Verdammt«, flüsterte Werner. »Du hast recht.«
Am Sonntag gingen Carla und ihre Mutter in die Kirche. Walters Verhaftung hatte Maud völlig aus der Fassung gebracht. Nun versuchte sie verzweifelt herauszufinden, wo er festgehalten wurde. Natürlich verweigerte die Gestapo ihr jegliche Information. Doch Pastor Ochs’ Kirche befand sich in einem wohlhabenden Viertel. Einige Gemeindemitglieder verfügten über Macht und Einfluss; vielleicht konnte man den einen oder anderen überreden, ein paar behutsame Nachforschungen anzustellen.
Carla senkte den Kopf und betete, dass ihr Vater nicht geschlagen oder gefoltert wurde. Sie glaubte nicht wirklich an die Macht des Gebets, war aber verzweifelt genug, sich an alles zu klammern, was Hoffnung versprach.
Sie war froh, die Familie Franck ein paar Bänke vor sich zu sehen. Sie schaute auf Werners Hinterkopf: Sein Haar lockte sich leicht im Nacken und stach damit aus den kurz geschorenen Haaren der anderen Männer hervor. Werner war wunderbar, der netteste Junge, der sie je geküsst hatte. Jede Nacht vor dem Schlafengehen durchlebte Carla noch einmal den Abend, als sie in den Grunewald gefahren waren.
Aber sie liebte Werner nicht.
Noch nicht.
Als Pastor Ochs die Kirche betrat, sah Carla zu ihrer Bestürzung, dass er ein gebrochener Mann war. Die Veränderung war schrecklich. Langsam, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, schlurfte er zur Kanzel, während ein besorgtes Raunen durch die Kirche ging. Er sprach die Gebete ohne jede innere Beteiligung und las die Predigt dann aus einem Buch vor. Carla arbeitete nun schon seit zwei Jahren im Krankenhaus, und sie erkannte die Symptome einer Depression auf Anhieb. Offenbar hatte auch Pastor Ochs Besuch von der Gestapo bekommen.
Carla bemerkte, dass die Frau des Pastors und ihre fünf Kinder nicht auf ihren gewohnten Plätzen in der vordersten Kirchenbank saßen.
Als sie die letzte Hymne sangen, schwor sich Carla, nicht aufzugeben, obwohl auch sie schreckliche Angst hatte. Sie hatte noch immer Verbündete: Frieda, Werner und Heinrich. Aber was konnten sie tun?
Carla wünschte, sie hätte handfeste Beweise für die Morde an Kurt, Axel und Gott weiß wie vielen anderen. Sie selbst hegte keinen Zweifel daran, dass die Nazis systematisch Behinderte ermordeten – allein die Einmischung der Gestapo zeigte es deutlich genug. Aber ohne konkrete Beweise konnte sie niemanden davon überzeugen.
Doch wie sollte sie an diese Beweise kommen?
Nach dem Gottesdienst ging sie mit Werner und Frieda aus der Kirche. Sie zog die beiden von ihren Eltern weg und sagte: »Wirmüssen den systematischen Mord an den Kindern nachweisen, sonst sind uns die Hände gebunden.«
Frieda nickte. »Wir sollten nach Akelberg fahren, in dieses Krankenhaus.«
Werner hatte diesen Vorschlag schon ganz zu Anfang gemacht; dann aber hatten sie beschlossen, mit ihren Nachforschungen in Berlin zu beginnen. Jetzt dachte Carla noch einmal über den Vorschlag nach. »Dafür brauchen wir eine Reiseerlaubnis«, sagte sie.
»Und wie sollen wir die bekommen?«
Carla schnippte mit den Fingern. »Wir sind
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