Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sagte Maud, als sie sich ihrem Haus näherten. »Falls nötig, warte ich den ganzen Tag in der Lobby. Ich werde sie anflehen, etwas zu unternehmen. Wenn sie es wirklich wollen, können sie eine halb offizielle Anfrage stellen. Schließlich ist Walter der Schwager eines britischen Staatssekretärs … Was ist das denn? Warum steht unsere Haustür auf?«
Carlas erster Gedanke war, dass die Gestapo ihnen wieder einen Besuch abgestattet hatte, aber es parkte kein schwarzer Wagen am Straßenrand. Und in der Tür steckte ein Schlüssel.
Maud trat in den Flur und schrie entsetzt auf.
Carla rannte zu ihr.
Auf dem Boden lag ein blutüberströmter Mann.
Nur mit Mühe konnte Carla einen Schrei unterdrücken. »Wer ist das?«, fragte sie schaudernd.
Maud kniete sich neben den Mann. »Walter!«, rief sie. »Walter! Was haben sie dir angetan?«
Erst jetzt sah Carla, dass es sich um ihren Vater handelte. Er war so schwer verletzt, dass er kaum zu erkennen war. Ein Auge war geschlossen; sein Mund war zu einem blutigen Klumpen geschwollen, und sein Haar war blutverklebt. Ein Arm war seltsam verdreht, und sein Jackett war voller Erbrochenem.
Maud rief: »Walter, sprich mit mir!«
Er öffnete den geschundenen Mund und stöhnte.
Carla bekämpfte den alles erstickenden Schmerz, der in ihr aufwallte, indem sie sich auf ihren Beruf besann. Sie schnappte sich ein Kissen und bettete Walters Kopf darauf. Dann holte sie ein Glas Wasser aus der Küche und träufelte ihm ein wenig davon auf die Lippen. Erleichtert sah sie, dass er schluckte. Sie eilte in sein Arbeitszimmer, holte eine Flasche Schnaps und flößte ihm ein wenig davon ein. Wieder schluckte er und hustete.
»Ich hole Dr. Rothmann«, sagte Carla. »Wasch ihm das Gesicht, Mutter, und gib ihm noch etwas Wasser. Aber beweg ihn nicht.«
»Ja«, sagte Maud. »Bitte, beeil dich!«
Carla holte ihr Fahrrad aus der Abstellkammer und radelte los. Als Jude durfte Dr. Rothmann zwar nicht mehr praktizieren, doch im Geheimen behandelte er noch immer die Armen.
Carla fuhr, so schnell sie konnte. Wie war Vater nach Hause gekommen? Sie vermutete, dass die Gestapo ihn hergefahren hatte. Irgendwie hatte er es noch durch die Tür geschafft und war dann zusammengebrochen.
Carla erreichte Dr. Rothmanns Haus. Wie ihr eigenes, so war auch dieses Gebäude lange Zeit nicht mehr gepflegt und instand gehalten worden. Die meisten Fenster hatten Judenhasser eingeworfen.
Frau Rothmann öffnete die Tür. »Mein Vater ist zusammengeschlagen worden«, sagte Carla atemlos. »Von der Gestapo.«
Frau Rothmann zögerte keine Sekunde. »Mein Mann kommt sofort«, sagte sie, drehte sich um und rief die Treppe hinauf: »Isaak!«
Dr. Rothmann kam herunter.
»Es geht um Herrn von Ulrich«, sagte seine Frau.
Der Arzt schnappte sich eine Einkaufstasche, die neben der Tür stand. Verständlicherweise verzichtete er auf einen Arztkoffer, weil er nicht mehr praktizieren durfte und nicht ertappt werden wollte.
Sie verließen das Haus. »Ich fahre voraus«, sagte Carla.
Als sie nach Hause kam, saß ihre Mutter auf der Türschwelle und weinte.
»Der Arzt ist unterwegs!«, verkündete Carla.
»Zu spät«, schluchzte Maud. »Dein Vater ist tot.«
Um halb drei stand Wolodja vor dem ehemaligen Wertheim-Kaufhaus am Leipziger Platz, das wie so viele jüdische Geschäfte und Konzerne von den Nationalsozialisten »arisiert« worden war. Mehrmals patrouillierte er das Areal und hielt nach Männern Ausschau, die Polizisten in Zivil sein könnten. Er war sicher, nicht verfolgt worden zu sein, blieb aber wachsam, denn ein zufällig vorbeikommender deutscher Agent könnte ihn erkennen und sich fragen, was er im Schilde führte. Ein so belebter Ort wie der Leipziger Platz war zwar eine hervorragende, aber keineswegs perfekte Tarnung.
Noch immer zerbrach er sich den Kopf über das Gerücht, dass die Wehrmacht die Sowjetunion angreifen wolle. Wenn es stimmte, würde Wolodja nicht mehr lange in Berlin sein und ins Hauptquartier der GRU in Moskau zurückkehren. Er freute sich schon darauf, Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Anja, seine Schwester, hatte Zwillinge bekommen, die er noch nie gesehen hatte. Außerdem konnte er ein bisschen Ruhe vertragen. Seine verdeckte Arbeit bedeutete eine ständige Belastung: Es galt, Gestapo-Agenten abzuschütteln, Geheimtreffen abzuhalten, Spione zu rekrutieren und ständig vor Verrätern auf der Hut zu sein. Ein, zwei Jahre im Hauptquartier kämen Wolodja da sehr gelegen –
Weitere Kostenlose Bücher