Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
gewollt hätte. Maud hatte lange darüber nachgedacht und erst einen Tag später geantwortet: »Er hätte gewollt, dass du weiterkämpfst.«
Maud hatte es nur mit Mühe über die Lippen gebracht, aber sie wussten beide, dass es stimmte.
Frieda hatte keine solchen Diskussionen mit ihren Eltern geführt. Monika, ihre Mutter, hatte Walter in ihrer Jugend geliebt, und sein Tod hatte sie schwer getroffen. Doch sie wäre entsetzt gewesen, hätte sie gewusst, was ihre Tochter vorhatte. Friedas Vater, Ludi, hätte sie wahrscheinlich im Keller eingesperrt. Doch beide glaubten, dass Frieda tatsächlich nur eine harmlose Fahrradtour machte. Wenn sie überhaupt einen Verdacht hegten, dann den, dass der Ausflug mit einem Jungen zu tun haben könnte.
Die Landschaft war hügelig, doch die beiden Mädchen waren in guter Verfassung, und schon eine Stunde später rollten sie einen Hang nach Akelberg hinunter. Carla hatte das Gefühl, als würden sie in Feindgebiet vordringen.
Sie gingen in ein Café. Coca-Cola gab es nicht. »Wir sind hier nicht in Berlin!«, sagte die Frau hinter der Theke entrüstet, als hätten die Mädchen sie nach etwas Unanständigem gefragt. Carla wunderte sich. Warum führte ein so fremdenfeindlicher Mensch ausgerechnet ein Café?
Die Mädchen bekamen zwei Gläser Sinalco-Limonade, ein deutsches Produkt, und nutzten die Gelegenheit, um ihre Wasserflaschen aufzufüllen.
Sie wussten nicht, wo genau die Klinik lag. Sie hätten fragen müssen, doch Carla hatte Angst, damit nur unnötig Verdacht zu erregen. Die hiesigen Nazis warteten vielleicht nur darauf, dass irgendwelche Fremden Fragen stellten.
Beim Bezahlen sagte Carla: »Wir sollen uns mit dem Rest unserer Gruppe an der Kreuzung beim Krankenhaus treffen. Wie kommen wir dahin?«
Die Frau konnte ihnen nicht in die Augen schauen. »Hier gibt es kein Krankenhaus.«
»Die Akelberg-Klinik, meine ich.«
»Da meint ihr wohl ein anderes Akelberg.«
Carla war sicher, dass die Frau log. »Seltsam«, sagte sie. »Hoffentlich haben wir uns nicht verirrt.«
Sie schoben ihre Fahrräder über die Hauptstraße. Es geht wohl nicht anders, überlegte Carla. Ich muss nach dem Weg fragen.
Ein harmlos aussehender alter Mann saß vor einer Kneipe aufder Bank und genoss die Nachmittagssonne. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Carla. »Wissen Sie, wo das Krankenhaus ist?«
»Durch die Stadt und dann links den Hügel rauf«, antwortete der Mann. »Aber geht nicht rein … Da kommen nicht viele wieder raus.« Er kicherte, als hätte er einen gelungenen Scherz gemacht.
Die Richtungsangaben waren vage, würden aber vermutlich reichen. Carla beschloss, nicht weiterzufragen, um keine zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Eine Frau mit Kopftuch packte den alten Mann am Arm. »Achtet nicht auf ihn«, sagte sie zu den Mädchen. »Er weiß nicht, was er redet.« Sie musterte den Alten besorgt. Dann zerrte sie ihn in die Höhe und scheuchte ihn den Bürgersteig hinunter. »Sei jetzt still, du alter Narr«, rief sie ihm hinterher.
Offenbar hatten die Leute hier zumindest eine Ahnung von dem, was in ihrer Nachbarschaft vor sich ging, hatten aber beschlossen, sich weitgehend herauszuhalten – zum Glück für Carla und Frieda, denn das bedeutete wahrscheinlich, dass die Leute nicht direkt zu den Nazis liefen und ihnen steckten, dass sich zwei Mädchen nach dem Krankenhaus erkundigt hatten.
Carla und Frieda gingen die Straße hinunter und fanden eine Jugendherberge. Es gab Tausende solcher Herbergen in Deutschland, um sportlichen, unternehmungslustigen jungen Leuten wie den beiden Mädchen Essen und Unterkunft zu bieten. Die Großraumzimmer waren nur mit dem Nötigsten ausgestattet, aber billig.
Es war schon spät am Nachmittag, als Carla und Frieda wieder aus der Stadt radelten. Nach knapp zwei Kilometern erreichten sie eine Abzweigung ohne Wegweiser, doch die Straße führte einen Hang hinauf, und so bogen sie ab.
Carla wurde immer unruhiger. Je näher sie dem Krankenhaus kamen, desto schwieriger würde es sein, sich eine glaubwürdige Ausrede auszudenken, sollte jemand sie anhalten und befragen.
Ungefähr einen Kilometer weiter sahen sie ein großes Haus in einem Park. Es schien weder ummauert noch umzäunt zu sein, und die Straße führte direkt zum Haupteingang. Wieder war nirgends ein Schild zu sehen.
Irgendwie hatte Carla erwartet, eine düstere Burg mit vergitterten Fenstern und eisenbeschlagenen Türen zu sehen; aber das hier war ein typisches bayerisches
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