Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Landhaus mit überhängendem Dach, hölzernen Balkonen und einem kleinen Glockenturm. Hier konnte doch unmöglich so etwas Schreckliches wie Kindsmord geschehen … oder? Und es wirkte für ein Krankenhaus ungewöhnlich klein. Außerdem fiel Carla ein moderner Anbau mit großem Kamin auf.
Die beiden Mädchen stiegen ab und lehnten ihre Fahrräder an die Hauswand. Carla schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Stufen zum Haupteingang hinaufstiegen. Warum gab es hier keine Wachen? Weil niemand so dumm sein würde, sich die Anlage genauer anzuschauen?
An der Tür gab es weder eine Klingel noch einen Klopfer, doch als Carla dagegendrückte, schwang die Tür auf. Sie trat ein. Frieda folgte ihr. Die Mädchen fanden sich in einer kühlen Eingangshalle mit kahlen weißen Wänden wieder. Mehrere Zimmer gingen von der Halle ab, doch sämtliche Türen waren verschlossen. Eine bebrillte Frau mittleren Alters kam eine breite Treppe herunter. Sie trug ein elegantes graues Kleid. »Ja?«, sagte sie.
»Hallo«, sagte Frieda, so beiläufig sie konnte.
»Was tun Sie hier? Sie dürfen hier nicht rein.«
Frieda und Carla hatten sich zuvor eine Geschichte ausgedacht. »Ich wollte nur den Ort besuchen, an dem mein Bruder gestorben ist«, sagte Frieda. »Er war fünfzehn …«
»Das hier ist kein öffentliches Hospital!«, unterbrach die Frau sie grob.
»Doch, ist es.« Frieda war in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. So leicht ließ sie sich von irgendwelchen Untergebenen nicht einschüchtern.
Eine Krankenschwester von vielleicht achtzehn Jahren kam aus einer Nebentür und starrte die beiden an. Die Frau in dem grauen Kleid wandte sich an sie. »Schwester König, holen Sie sofort Herrn Römer.«
Die Krankenschwester lief los.
»Sie hätten vorher schreiben sollen«, sagte die Frau.
»Haben Sie meinen Brief denn nicht bekommen?«, entgegnete Frieda. »Ich habe an den Chefarzt geschrieben.« Was natürlich nicht stimmte; Frieda improvisierte bloß.
»So einen Brief haben wir nie erhalten.« Der Frau war deutlich anzuhören, dass eine derart unverschämte Frage niemals unbemerkt geblieben wäre.
Carla lauschte. Es herrschte eine seltsame Stille. Sie hatte schon viel mit körperlich und geistig behinderten Menschen zu tun gehabt, und still waren sie nur selten. Selbst durch die geschlossenen Türen hätte man Rufe, Lachen, Weinen, Schreie oder sinnloses Geplapper hören müssen. Aber da war nichts. Es war wie in einer Leichenhalle.
Frieda versuchte es auf andere Weise. »Vielleicht können Sie mir ja sagen, wo das Grab meines Bruders ist. Ich würde es gerne besuchen.«
»Es gibt keine Gräber«, antwortete die Frau. »Wir haben einen Verbrennungsofen.« Sofort verbesserte sie sich: »Ein Krematorium, wollte ich sagen.«
»Ja, ich habe den Kamin gesehen«, bemerkte Carla.
»Was ist mit der Asche meines Bruders geschehen?«, fragte Frieda.
»Sie wird Ihnen zu gegebener Zeit zugestellt.«
»Sie werden sie doch nicht mit anderer Asche vermischen?«
Die Frau lief rot an. Offenbar hatte Frieda mit ihrer Frage ins Schwarze getroffen.
Schwester König kehrte zurück, gefolgt von einem stämmigen Mann in der weißen Uniform eines Krankenpflegers. »Ah, Römer«, sagte die Frau, »bitte führen Sie die jungen Damen vom Gelände.«
»Nur einen Augenblick noch«, sagte Frieda. »Sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun? Ich wollte doch nur den Ort sehen, an dem mein Bruder gestorben ist.«
»Wir sind uns vollkommen sicher.«
»Dann macht es Ihnen bestimmt nichts aus, mir Ihren Namen zu nennen.«
Die Frau zögerte kurz. »Schmidt«, sagte sie dann. »Und jetzt gehen Sie bitte.«
Römer bewegte sich drohend auf sie zu.
»Wir gehen, keine Bange«, sagte Frieda. »Wir wollen Herrn Römer schließlich keinen Grund geben, sich an uns zu vergreifen.«
Der Mann drehte ab und öffnete den Mädchen die Tür.
Sie gingen hinaus, stiegen auf ihre Räder und fuhren die Einfahrt hinunter. »Glaubst du, sie hat uns unsere Geschichte abgekauft?«, fragte Frieda.
»Klar«, antwortete Carla. »Sie hat uns ja nicht mal nach unseren Namen gefragt. Hätte sie die Wahrheit vermutet, hätte sie sofort die Polizei gerufen.«
»Aber wir haben nicht viel in Erfahrung gebracht. Wir haben den Kamin gesehen, aber nichts gefunden, was man auch nur annähernd als Beweis bezeichnen könnte.«
Carla nickte betrübt. An Beweise zu kommen war offenbar nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Carla und Frieda kehrten in die
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