Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
treffen, Herr von Ulrich. Mit Gottfried von Kessel, zum Beispiel.«
Walter fragte erstaunt: »Wie kommst du jetzt darauf? Woher kennst du von Kessel?«
Lloyd erzählte von seiner Begegnung mit Heinrich und fügtehinzu: »Sie und von Kessel haben vor dem Krieg in London miteinander gearbeitet, nicht wahr?«
Walter lachte freudlos. »Allerdings. Von Kessel ist ein ausgemachter Speichellecker.«
Womöglich war das Treffen doch keine so gute Idee. »Ich wusste nicht, dass Sie den Mann nicht mögen«, sagte Lloyd.
Auf Walters Gesicht erschien ein nachdenklicher Ausdruck. »Ich hasse ihn sogar … aber die Nazis hasse ich noch mehr. Und wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um das Ermächtigungsgesetz zu verhindern.«
»Soll ich Herrn von Kessel ausrichten, dass Sie mit ihm reden möchten?«, fragte Lloyd.
»Ja. Ein Versuch kann nicht schaden. Wenn er einverstanden ist, soll er sich um ein Uhr im Deutschen Herrenklub zum Essen mit mir treffen.«
»In Ordnung.«
Lloyd machte sich auf den Weg zum Tagungsraum der Zentrumspartei, entdeckte den schwarz gekleideten Heinrich unter den Versammelten und winkte ihm. Die beiden jungen Männer gingen hinaus auf den Flur.
»Es heißt, Ihre Partei werde das Ermächtigungsgesetz unterstützen«, sagte Lloyd.
»Das steht noch nicht fest«, erwiderte Heinrich. »Die Meinung ist gespalten.«
»Wer steht denn gegen die Nazis?«
»Brüning und ein paar andere.« Heinrich Brüning war ehemaliger Reichskanzler und eine der führenden Persönlichkeiten der Partei.
In Lloyd keimte wieder Hoffnung auf. »Welche anderen?«
»Sind Sie zu mir gekommen, um mir Informationen zu entlocken?«
»Natürlich nicht, tut mir leid. Herr von Ulrich möchte mit Ihrem Vater zu Mittag essen.«
Heinrich musterte Lloyd misstrauisch. »Die beiden mögen sich nicht besonders. Das wissen Sie doch, oder?«
»Ja. Aber heute sollten sie ihre Differenzen beiseitelegen.«
Heinrich schien sich da nicht so sicher zu sein. »Ich werde ihn fragen«, sagte er. »Bitte warten Sie hier.« Er verschwand im Saal.
Während Lloyd wartete, hing er der beängstigenden Vorstellung nach, dass das, was zurzeit in Deutschland vor sich ging, auch in Großbritannien geschehen könnte. Der bloße Gedanke, in einer Diktatur leben zu müssen, ließ ihn schaudern. Er war jung und voller Idealismus; er wollte politisch arbeiten wie seine Eltern, wollte die Zukunft mitgestalten und die sozialen Verhältnisse in seinem Heimatland verbessern, und zwar für alle Schichten der Bevölkerung, besonders für Menschen wie die Bergleute von Aberowen. Aber wie sollte man etwas bewegen, wenn politische Versammlungen verboten wurden? Man brauchte das Recht auf Meinungsfreiheit. Man brauchte Zeitungen, die die Regierung angreifen durften, und Pubs, wo die Männer diskutieren konnten, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen.
Der Faschismus bedrohte dies alles. Deshalb musste er aufgehalten werden. Deshalb durfte das Ermächtigungsgesetz nicht zustande kommen. Hoffentlich gelang es Walter, Gottfried von Kessel umzustimmen und zu verhindern, dass das Zentrum mit den Nazis stimmte.
Heinrich kam zurück auf den Flur. »Mein Vater ist einverstanden.«
Lloyd fiel ein Stein vom Herzen. »Großartig! Herr von Ulrich hat den Deutschen Herrenklub als Treffpunkt vorgeschlagen, um ein Uhr.«
Heinrich zog die Brauen hoch. »Ist er dort Mitglied?«
»Ich nehme es an. Wieso?«
»Es ist eine eher konservative Einrichtung. Aber als von Ulrich ist er vermutlich adliger Herkunft, auch wenn er ein Sozialist ist.«
»Ich sollte wohl einen Tisch reservieren lassen. Wissen Sie, wo dieser Klub ist?«
Heinrich erklärte Lloyd den Weg.
»Soll ich für vier Personen reservieren?«, fragte Lloyd.
Heinrich lächelte. »Warum nicht? Wenn die beiden uns nicht dabeihaben wollen, können sie uns ja wegschicken.«
Lloyd verließ die Krolloper und ging über den Königsplatz, vorbei am ausgebrannten Reichstag und zum Herrenklub. Das Innere wirkte auf ihn wie eine Mischung aus Restaurant und Bestattungsinstitut. Kellner in Abendgarderobe huschten umher und legten funkelndes Besteck auf weiß gedeckte Tische. Ein Oberkellnernahm Lloyds Reservierung entgegen und notierte den Namen »von Ulrich« so feierlich, als würde er ihn in ein Totenbuch eintragen.
Lloyd kehrte zur Krolloper zurück. Inzwischen ging es hier noch geschäftiger und lauter zu. Die Spannung war förmlich mit Händen zu greifen. Lloyd hörte jemanden aufgeregt sagen, Hitler werde
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