Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
erhob sich und schaute sich das Baby in Carlas Armen an. »Ein kleiner Junge«, verkündete er.
Erik beobachtete mit einer Mischung aus Ekel und Faszination, wie der Arzt seine Tasche öffnete, einen Faden herausholte und zwei Schlingen daraus knüpfte. Dabei sprach er mit sanfter Stimme zu Carla. »Warum weinst du denn? Du hast das großartig gemacht und ganz allein ein Kind entbunden. Du hättest mich ja kaum gebraucht. Ich hoffe, du wirst Ärztin, wenn du groß bist.«
Carla beruhigte sich ein wenig. Dann flüsterte sie: »Schauen Sie sich seinen Kopf an.« Der Arzt beugte sich zu ihr. »Ich glaube, mit ihm stimmt was nicht.«
»Ich weiß.« Der Arzt nahm eine scharfe Schere aus der Tasche und schnitt den Faden zwischen den beiden Schlingen durch. Dann nahm er Carla das Baby ab, hielt es auf Armeslänge von sichund schaute es sich an. Erik konnte nichts Schlimmes sehen, aber das Kind war so rot und faltig und voller Schleim, dass man nicht viel erkennen konnte. Nach kurzem Nachdenken sagte der Arzt jedoch: »O Gott.«
Erik schaute genauer hin. Da stimmte tatsächlich etwas nicht. Das Gesicht des Babys war schief. Eine Seite war normal, die andere aber war eingedrückt, und auch das Auge war irgendwie seltsam.
Dr. Rothmann legte das Baby wieder Carla in die Arme.
Ada stöhnte und schien zu krampfen. Als sie sich wieder entspannt hatte, griff Dr. Rothmann ihr unter den Rock und zog einen ekligen Klumpen heraus, der wie rohes Fleisch aussah. »Erik«, sagte er, »hol mir eine Zeitung.«
»Äh … welche?«, fragte Erik. Seine Eltern bekamen jeden Tag mehrere davon.
»Egal«, antwortete Dr. Rothmann. »Ich will sie ja nicht lesen.«
Erik lief nach oben und fand die Vossische Zeitung vom Vortag. Nachdem er sie Dr. Rothmann gebracht hatte, wickelte der Arzt den fleischigen Klumpen in das Papier und legte es auf den Boden. »Das nennen wir die Nachgeburt«, erklärte er Carla. »Wir sollten sie später verbrennen.«
Er setzte sich auf die Bettkante. »Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Ada«, sagte er. »Ihr Baby lebt, aber es könnte sein, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wir werden es jetzt abwaschen und warm einwickeln. Dann bringen wir es ins Krankenhaus.«
Ada blickte ihn verängstigt an. »Was ist denn los?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen es erst untersuchen.«
»Wird es wieder gesund?«
»Die Krankenhausärzte werden tun, was sie können. Dann müssen wir auf Gott vertrauen.«
Erik erinnerte sich daran, dass die Juden denselben Gott verehrten wie die Christen. Das konnte man leicht vergessen.
»Können Sie aufstehen und mich ins Krankenhaus begleiten, Ada?«, fragte Dr. Rothmann. »Sie müssen den Jungen stillen.«
»Ich bin so schrecklich müde«, sagte Ada.
»Dann ruhen Sie sich aus. Aber nur ein paar Minuten. Das Baby muss möglichst schnell untersucht werden. Carla wird Ihnen beim Anziehen helfen. Ich warte oben.« Mit sanfter Ironie sagte er zu Erik: »Na, dann komm, kleiner Nazi.«
Erik wäre am liebsten im Boden versunken. Dr. Rothmanns sanfter Spott war schlimmer als die unverhohlene Verachtung seiner Frau.
Als sie gingen, sagte Ada: »Herr Doktor?«
»Ja, mein Kind.«
»Er heißt Kurt.«
»Das ist ein guter Name«, sagte Dr. Rothmann und ging hinaus. Erik folgte ihm.
Es war Lloyd Williams’ erster Tag als Assistent Walter von Ulrichs und zugleich der erste Arbeitstag für das neu gewählte Parlament.
Walter und Maud kämpften nach besten Kräften um die zerbrechliche deutsche Demokratie, auch wenn dieser Kampf immer hoffnungsloser erschien. Lloyd teilte ihre Verzweiflung, denn sie waren gute Menschen, die er fast sein Leben lang kannte; außerdem befürchtete er, Großbritannien könnte Deutschland auf dem Weg in die Hölle folgen.
Die Wahlen hatten keine Klarheit über die politischen Machtverhältnisse erbracht. Die Nazis hatten vierundvierzig Prozent der Stimmen errungen – eine Verbesserung gegenüber der letzten Wahl, aber noch weit entfernt von den einundfünfzig Prozent, die sie sich erhofft hatten.
Walter sah darin einen Silberstreif am Horizont. Auf der Fahrt zur Reichstagssitzung sagte er zu Lloyd: »Obwohl die Nazis alles mobilisiert haben, konnten sie nicht die Stimmenmehrheit erringen.« Er schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »So beliebt sind sie gar nicht, da können sie noch so reden. Und je länger sie an der Regierung bleiben, desto schneller wird die Bevölkerung erkennen, wie abgrundtief schlecht dieser Verein ist.«
Lloyd war sich da nicht so
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