Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sicher. »Die Nazis haben oppositionelle Zeitungen verboten, Reichstagsabgeordnete ins Gefängnis geworfen und die Polizei unterwandert«, sagte er. »Trotzdem stimmen vierundvierzig Prozent der Deutschen für sie? Das finde ich nicht gerade beruhigend.«
Das Reichstagsgebäude war durch das Feuer schwer beschädigt worden; deshalb tagte das Parlament in der Krolloper am Königsplatz, bis vor Kurzem noch Platz der Republik. Die Krolloper war ein ausgedehnter Gebäudekomplex mit drei Konzertsälen, vierzehn kleineren Auditorien sowie Restaurants und Cafés.
Als Walter und Lloyd dort eintrafen, erlebten sie eine böse Überraschung: Das gesamte Gelände war von Braunhemden umstellt. Abgeordnete und deren Mitarbeiter drängten sich an den Eingängen und versuchten, ins Innere zu gelangen.
»Will Hitler auf diese Weise seinen Willen durchsetzen?« Walter machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung. »Indem er uns den Zugang zum Plenarsaal verwehrt?«
Lloyd sah, dass die Türen von Braunhemden versperrt waren. Nur Abgeordnete in Nazi-Uniform ließen sie ohne Kontrolle durch, alle anderen mussten sich ausweisen. Ein junger SA -Mann musterte den gleichaltrigen Lloyd verächtlich von Kopf bis Fuß, bevor er ihn widerwillig durchließ. Es war ein unverhüllter Einschüchterungsversuch.
In Lloyd loderte Zorn auf. Wie kamen diese Leute dazu, ihn so von oben herab zu behandeln? Er hätte den SA -Mann mit Leichtigkeit zu Boden schicken können – ein kurzer linker Haken hätte genügt –, doch er zwang sich, Ruhe zu bewahren.
Nach der Schlägerei in der Volksbühne hatte seine Mutter darauf bestanden, dass er umgehend nach England zurückkehrte. Doch Lloyd hatte sie – mit viel Mühe – überreden können, in Berlin bleiben zu dürfen.
Ironischerweise besaß seine Mutter das gleiche draufgängerische Naturell wie er selbst. Deshalb war auch sie in Berlin geblieben. Auf der einen Seite fürchtete sie sich; zugleich fand sie es aufregend, diesen Wendepunkt der deutschen Geschichte hautnah mitzuerleben. Außerdem hoffte sie, ein Buch über die Gewalt und die Repressalien schreiben zu können und die Demokraten in anderen Ländern vor den faschistischen Eroberungstaktiken zu warnen, was Lloyd zu der Bemerkung veranlasst hatte: »Du bist noch schlimmer als ich.«
In der Krolloper bildeten die SA und SS lange Spaliere. Viele waren bewaffnet. Sie bewachten sämtliche Zugänge und zeigten mit Blicken und Gesten unverhohlen ihren Hass auf jeden, der nicht auf ihrer Seite stand.
Walter und Lloyd machten sich auf die Suche nach dem Sitzungsraum der SPD -Fraktion. Sie waren spät dran und gingen mit eiligen Schritten durch die langen Flure. Als Lloyd einen Blick in den Plenarsaal warf, sah er hinter der Rednertribüne eine riesige Hakenkreuzfahne, die den Saal beherrschte.
Wenn der Reichstag an diesem Nachmittag zu seiner ersten Sitzung zusammenkam, stand als erster Punkt das sogenannte Ermächtigungsgesetz auf der Tagesordnung, das es Hitlers Kabinett ermöglichen würde, Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen. Kam das Ermächtigungsgesetz durch, würde es Hitler de facto zum Diktator machen. Gewalt, Folter und Mord – all der schreckliche Terror, unter dem Deutschland in den Wochen zuvor gelitten hatte – würden zu legitimen Instrumenten der Unterdrückung und Einschüchterung werden. Es war ein beängstigender Gedanke. Doch Lloyd konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Parlament dieser Welt ein solches Gesetz verabschieden würde. Die Abgeordneten würden sich damit ihrer eigenen Macht berauben. Es wäre politischer Selbstmord.
Im Versammlungssaal der Sozialdemokraten hatte die Sitzung bereits begonnen. Während Walter sich sofort an den Diskussionen beteiligte, musste Lloyd das Schicksal vieler Assistenten erdulden: Er wurde losgeschickt, Kaffee zu holen.
In der Schlange fand er sich hinter einem blassen, angespannt wirkenden jungen Mann in tiefschwarzem Anzug wieder. Lloyds Deutsch war inzwischen gut genug, dass er es sich zutraute, mit dem Fremden ein Gespräch zu beginnen. Der Mann in Schwarz erwies sich als Heinrich von Kessel. Er arbeitete als unbezahlte Hilfskraft für seinen Vater, Gottfried von Kessel, einen Abgeordneten der katholischen Zentrumspartei. Heinrich zeigte sich erstaunt, als Lloyd Walters Namen erwähnte.
»Wie klein die Welt ist!«, sagte er. »Mein Vater kennt Herrn von Ulrich sehr gut. 1914 waren beide Attachés an der deutschen Botschaft in London.«
Doch bald schon wandte das
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