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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Gespräch sich dem politischen Tagesgeschehen zu. Auf die Frage Lloyds, worin Heinrich die Lösung für Deutschlands Probleme sehe, antwortete dieser: »In einer Rückkehr zum christlichen Glauben.«
    »Ich bin nicht besonders fromm«, erwiderte Lloyd. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das so offen sage. MeineGroßeltern in Wales sind strenggläubig und stecken ihre Nasen ständig in die Bibel, aber meiner Mutter ist der Glaube egal, und mein Stiefvater ist Jude.«
    »Gehen Sie denn nie in die Kirche?«, fragte Heinrich von Kessel.
    »Doch.« Lloyd lächelte. »Manchmal gehen wir in die Calvary Gospel Hall in Aldgate, aber weniger des Glaubens wegen, sondern weil der Pastor Labourmitglied ist.«
    Heinrich lachte auf. »Ich werde für Sie beten.«
    Als Lloyd in den Sitzungssaal der SPD -Fraktion zurückkehrte, richtete Walter gerade das Wort an die Versammelten. »So weit kann es unmöglich kommen!«, erklärte er. »Das Ermächtigungsgesetz stellt eine Verfassungsänderung dar. Dafür müssen zwei Drittel der Abgeordneten anwesend sein, also 432 von 647. Und von denen müssen wiederum zwei Drittel der Gesetzesvorlage zustimmen.«
    Lloyd rechnete die Zahlen im Kopf zusammen, während er das Tablett auf den Tisch stellte. Die Nazis verfügten über 288 Sitze; die »Hugenberg-Bande«, ihre Verbündeten von der DNVP , über 52. Das machte zusammen 340 Sitze, also bei weitem zu wenig für eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten. Walter hatte recht: Das Gesetz konnte nicht verabschiedet werden, wie man es auch drehte und wendete. Lloyd fiel ein Stein vom Herzen.
    Doch seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. »Sei dir da nicht so sicher, Genosse«, sagte ein Mann mit Berliner Akzent zu Walter. »Die Nazis umwerben die Zentrumsleute. Und die würden ihnen noch mal 74 Stimmen bringen.«
    Lloyd horchte auf: Die Zentrumspartei war Heinrich von Kessels politische Heimat. Aber weshalb sollte das Zentrum eine Maßnahme unterstützen, die sie ihrer eigenen Macht beraubte?
    Als hätte er Lloyds Gedanken gelesen, fragte Walter: »Warum sollten die Katholiken so dumm sein?«
    Der Mann mit dem Berliner Akzent erwiderte: »So dumm wäre das gar nicht, Genosse. In Italien haben die Katholiken ein Konkordat mit Mussolini geschlossen, um ihre Kirche zu schützen. Warum sollten sie hier nicht das Gleiche tun?«
    Lloyd rechnete nach, was die Unterstützung des Zentrums den Nazis bringen würde. Sie lägen dann bei 414 Stimmen. »Das sind immer noch keine zwei Drittel«, flüsterte er Walter erleichtert zu.
    Ein anderer junger Assistent hörte ihn und warf ein: »Du vergisst die letzte Änderung der Geschäftsordnung, die durch den Reichstagspräsidenten verkündet worden ist.« Der Reichstagspräsident war Hermann Göring, Hitlers engster Vertrauter. Lloyd hatte von dieser Änderung noch nichts gehört, und offenbar auch sonst niemand. Die Abgeordneten verstummten, als der junge Mann fortfuhr: »Göring hat die kommunistischen Abgeordneten, die von den Nazi verhaftet wurden oder geflohen sind, für ›unentschuldigt abwesend‹ erklärt – mit der Wirkung, dass ihre Stimmen gar nicht erst zählen.«
    Die Versammelten machten ihrer Empörung lautstark Luft. Lloyd sah, wie Walter rot anlief. »Das kann Göring nicht tun!«, stieß er hervor.
    »Es entbehrt jeder rechtlichen Grundlage«, sagte der Assistent, »aber das hat ihn nicht daran gehindert.«
    Lloyd war verzweifelt. Durch so einen billigen Trick konnte man doch kein Gesetz durchbringen … oder? Wieder rechnete er nach. Die Kommunisten hatten 81 Sitze gehabt. Rechnete man diese Stimmen nicht mit ein, benötigten die Nazis nur noch zwei Drittel von 566 Stimmen, also 378 Stimmen. Damit hätten sie zwar zusammen mit der DNVP immer noch nicht genug, aber wenn es ihnen gelang, das Zentrum auf ihre Seite zu ziehen …
    »Das ist ungesetzlich«, rief jemand. »Wir sollten unseren Protest bekunden und die Sitzung verlassen.«
    »Nein!«, sagte Walter mit Nachdruck. »Dann würden sie das Gesetz kurz und schmerzlos ohne uns verabschieden. Wir müssen die Katholiken dazu bringen, dass sie nicht mit den Nazis stimmen. Genosse Wels muss sofort mit Prälat Kaas sprechen.« Otto Wels war Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD ; Prälat Ludwig Kaas war der Fraktionsvorsitzende des Zentrums.
    Zustimmendes Raunen erhob sich im Versammlungssaal.
    Lloyd atmete tief durch und wandte sich an Walter. »Vielleicht sollten Sie sich mit einem maßgeblichen Mann der Zentrumspartei

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