Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Ablehnung und damit die Ansage des Widerstandes entgegenzunehmen!«, rief er und legte eine dramatische Pause ein, um alle erkennen zu lassen, dass er jede Gegenstimme als Widerstand betrachtete. Dann wurde er noch deutlicher: »Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst entscheiden über Frieden oder Krieg!«
Hitler setzte sich, begleitet vom tosenden Applaus der nationalsozialistischen Abgeordneten. Göring verkündete eine Sitzungspause.
Heinrich strahlte vor Freude, doch Lloyd war deprimiert. Beide Männer gingen in verschiedene Richtungen davon. Ihre Parteien würden sich nun ein letztes Mal besprechen.
Bei den Sozialdemokraten herrschte Untergangsstimmung. Otto Wels, der Parteivorsitzende, würde im Plenum reden müssen, aber was konnte er noch großartig sagen? Mehrere Abgeordnete äußerten sogar die Befürchtung, dass Wels ihr aller Leben aufs Spiel setzte, sollte er Hitler kritisieren. Auch Lloyd bekam es mit der Angst zu tun. Wenn Gefahr für Leib und Leben der Abgeordneten bestand, galt das erst recht für ihre Assistenten. Wels verriet sogar, dass er eine Zyankalikapsel in der Westentasche habe. Sollte man ihn verhaften, würde er sich das Leben nehmen, um der Folter zu entgehen. Lloyd war entsetzt. Wels war gewählter Volksvertreter und Vorsitzender einer der größten deutschen Volksparteien, und nun musste dieser Mann sich auf eine Stufe mit Saboteuren und Hochverrätern stellen.
Lloyd erkannte, dass er den Tag mit falschen Erwartungen begonnen hatte. Er hatte das Ermächtigungsgesetz für eine absurde Idee gehalten, die nie Realität werden würde. Nun musste er einsehen, dass die meisten politisch Verantwortlichen genau damit rechneten, und zwar noch heute. Lloyd hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt.
Irrte er sich vielleicht genauso, wenn er glaubte, dass so etwas in seinem Heimatland niemals geschehen könnte? Machte er sich nur etwas vor?
Als jemand die Frage stellte, ob die Katholiken bereits eine endgültige Entscheidung getroffen hätten, erklärte Lloyd, er werde sich sofort erkundigen, und eilte noch einmal zum Sitzungssaal der Zentrumspartei. Wie zuvor winkte er Heinrich zur Tür, der auf Lloyds Frage nach dem Stand der Dinge antwortete: »Brüning und Ersing haben sich noch nicht entschieden.«
Lloyd verließ der Mut. Joseph Ersing war eine der Führungspersönlichkeiten in der christlichen Arbeiterbewegung. »Wie kann ein Gewerkschafter auch nur daran denken, dieses Gesetz durchzuwinken?«, fragte er.
»Prälat Kaas sagt, das Vaterland sei in Gefahr. Alle befürchten, dass Deutschland in Anarchie versinkt, wenn wir das Gesetz ablehnen.«
»Und wenn sie dem Gesetzesentwurf zustimmen, versinkt Deutschland in einer braunen Diktatur«, sagte Lloyd.
»Was ist mit Ihren Leuten?«, erkundigte sich Heinrich.
»Sie befürchten, man wird sie erschießen, wenn sie gegen das Gesetz stimmen. Aber sie werden es trotzdem tun.«
Heinrich verschwand wieder im Tagungsraum, und Lloyd kehrte zum Sitzungssaal der Sozialdemokraten zurück. »Der Widerstand bröckelt«, berichtete er Walter und dessen Parteifreunden. »Sie haben Angst vor einem Bürgerkrieg, sollte der Gesetzesentwurf abgelehnt werden.«
Nach Lloyds Worten verdüsterte sich die Stimmung noch mehr.
Um achtzehn Uhr kehrten die Abgeordneten in den Plenarsaal zurück.
Otto Wels sprach als Erster. Er war ruhig und gefasst, als er dem Plenum erklärte, den Deutschen sei es in einer demokratischen Republik alles in allem gut ergangen. Die Republik habeihnen die Freiheit und soziale Errungenschaften geschenkt, und sie habe Deutschland wieder zu einem anerkannten Mitglied der Staatengemeinschaft gemacht.
Lloyd sah, dass Hitler sich Notizen machte.
Am Ende seiner Rede bekundete Wels tapfer seine Treue zu den Prinzipien der Humanität und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. »Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten«, rief Wels über das Gelächter und Gegröle der Nazis hinweg.
Die Sozialdemokraten applaudierten, wurden aber niedergebrüllt.
»Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten!«, rief Wels. »Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung!« Lloyd konnte ihn über das Johlen der Nazis hinweg kaum verstehen. »Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft!«
Unter Schmährufen setzte Wels sich wieder.
Konnte seine mutige Rede vielleicht noch etwas bewirken? Lloyd
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