Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
vertreten, allen Menschen dienen zu müssen, ob sie nun für sie gestimmt hatten oder nicht.
Walter versuchte es mit einem anderen Argument. »Der beste Schutz für die Kirche ist ein demokratisch gewähltes Parlament, und das werft ihr einfach weg.«
»Wach auf, Walter!«, erwiderte von Kessel gereizt. »Hitler hat die Wahl gewonnen. Er ist an der Macht. Egal, was wir tun, er wird Deutschland auf absehbare Zeit beherrschen. Wir müssen uns schützen.«
»Hitlers Versprechen sind nichts wert!«
»Wir haben darum ersucht, dass uns bestimmte Dinge schriftlich zugesichert werden.«
»Und welche?«, wollte Walter wissen.
»Dass die Kirche vom Staat unabhängig bleibt«, antwortete von Kessel. »Dass katholische Schulen weiterhin unbehelligt bleiben und dass katholischen Staatsbediensteten wegen ihres Glaubens keinerlei Nachteile entstehen dürfen. Die Nationalsozialisten haben versprochen, uns das Schreiben noch heute Nachmittag zukommen zu lassen.«
»Denk doch mal darüber nach«, entgegnete Walter. »Ein Fetzen Papier, von einem Tyrannen unterzeichnet, gegen ein demokratisches Parlament! Was ist mehr wert?«
»Gott wacht über allem.«
Walter verdrehte die Augen. »Dann möge Gott Deutschland beistehen!«, sagte er.
Während die Diskussion zwischen Walter und Gottfried hin und her ging, fragte sich Lloyd, ob die Deutschen genug Zeit gehabt hatten, Vertrauen in die Demokratie zu entwickeln. DerReichstag hielt erst seit vierzehn Jahren die Macht in Händen. In dieser Zeit hatten die Deutschen einen Krieg verloren, hatten erleben müssen, wie ihre Währung zu einem Nichts verkommen war, und unter Massenarbeitslosigkeit gelitten. Kein Wunder, wenn ihnen das Wahlrecht als unzureichender Schutz erschien.
Gottfried von Kessel erwies sich als unnachgiebig. Am Ende des Essens hatte er sich keinen Schritt auf Walter zubewegt. Seine Pflicht sei der Schutz der Kirche, wiederholte er immer wieder.
Bedrückt kehrte Lloyd mit den anderen in die Krolloper zurück. Die Abgeordneten nahmen ihre Plätze im Plenarsaal ein. Lloyd und Heinrich saßen in einer Loge und schauten hinunter ins Plenum. Als die Stunde der Abstimmung näher rückte, postierten sich SA und SS an den Ausgängen und an den Wänden und bildeten einen drohenden Halbkreis hinter den sozialdemokratischen Abgeordneten. Es war beinahe so, als wollten sie die Abgeordneten daran hindern, den Saal zu verlassen, bevor das Gesetz verabschiedet worden war. Lloyd fragte sich bange, ob auch er hier eingesperrt sei.
Plötzlich gab es lauten Jubel und tosenden Applaus. Hitler kam in den Plenarsaal. Er trug eine Parteiuniform. Die Nazi-Abgeordneten, von denen die meisten genauso gekleidet waren wie ihr Führer, sprangen ekstatisch auf, während Hitler zum Rednerpult schritt. Nur die Sozialdemokraten blieben sitzen, doch Lloyd bemerkte, dass ein paar von ihnen nervös über die Schulter zu den bewaffneten Wachen schauten. Wie sollten diese Männer frei sprechen, wenn sie schon Angst bekamen, nur weil sie ihren politischen Gegner nicht mit stehendem Applaus empfangen hatten?
Als wieder Ruhe eingekehrt war, begann Hitler zu sprechen. Er stand aufrecht da, hatte den linken Arm angelegt und gestikulierte nur mit dem rechten. Seine Stimme war hart, rau und machtvoll, und sie bebte, als er von den »Novemberverbrechern« des Jahres 1918 sprach, die just in dem Moment kapituliert hätten, als Deutschland auf der Siegerstraße gewesen sei. Lloyd hatte den Eindruck, dass dieser Mann jedes seiner dummen, hetzerischen Worte glaubte.
Nachdem Hitler das Thema »Novemberverbrecher« weidlich ausgeschlachtet hatte, schlug er eine neue Richtung ein. Er sprach von den Kirchen und der wichtigen Stellung der christlichen Religion im deutschen Staat. Es war ein ungewöhnliches Thema für ihn, und seine Worte waren eindeutig an die Zentrumspartei gerichtet, deren Stimmen die heutige Abstimmung entscheiden würden. Hitler erklärte, für ihn seien die beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Elemente bei der Bewahrung des deutschen Volkstums; deshalb werde die Nazi-Regierung ihre Rechte nicht antasten.
Heinrich warf einen triumphierenden Blick zu Lloyd.
»An deiner Stelle würde ich mir das trotzdem schriftlich geben lassen«, murmelte Lloyd.
Es dauerte zweieinhalb Stunden, bis Hitler zum Ende kam.
Sein Schlusswort war eine unverhohlene Androhung von Gewalt, falls die Gesetzesvorlage nicht durchkäme. »Die Regierung ist aber ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der
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