Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
fuhr Ethel fort, »aber du kennst die Wahrheit. Ja, wir waren jung und naiv – und ganz schön scharf, ich genauso wie du –, aber wir liebten einander. Wir haben einander wirklich geliebt, Fitz. Gestehe es dir doch ein. Weißt du denn nicht, dass du die Seele verlierst, wenn du die Wahrheit über dich selbst abstreitest?«
Zum ersten Mal spiegelten sich Emotionen auf Fitz’ Gesicht; Lloyd sah es genau. Sein Vater kämpfte um Fassung. Lloyd begriff, dass seine Mutter den Finger auf das eigentliche Problem gelegt hatte, das nicht so sehr darin bestand, dass Fitz sich seines unehelichen Sohnes schämte: Er war zu stolz, als dass er zugegeben hätte, ein Hausmädchen geliebt zu haben. Vermutlich hatte er Ethel mehr geliebt als seine Ehefrau, und das stellte seine Glaubenssätze über die gesellschaftliche Hierarchie auf den Kopf.
Lloyd ergriff das Wort. »Ich war bei Boy, als es zu Ende ging, Sir. Er ist als tapferer Mann gestorben.«
Zum ersten Mal blickte Fitz ihn an. »Mein Sohn hat Ihre Anerkennung nicht nötig.«
Für Lloyd war es wie ein Schlag ins Gesicht.
Auch Ethel war schockiert. »Fitz!«, rief sie. »Wie kannst du so herzlos sein?«
In diesem Augenblick kam Daisy ins Büro.
»Hallo, Fitz!«, sagte sie fröhlich. »Wahrscheinlich hast du gedacht, mich los zu sein, und jetzt bist du doch wieder mein Schwiegervater. Ist das nicht lustig?«
Ethel sagte: »Ich versuche gerade, Fitz zu bewegen, dass er Lloyd die Hand gibt.«
»Einem Sozialisten schüttle ich nicht die Hand«, sagte Fitz.
Ethel führte einen Kampf, den sie nicht gewinnen konnte, doch sie kapitulierte nicht. »Sieh doch nur, wie viel von dir in ihm steckt. Er ähnelt dir, er kleidet sich wie du, teilt dein Interesse an der Politik. Vielleicht wird er irgendwann Außenminister, was auch du immer angestrebt hast.«
Fitz’ Gesicht wurde immer dunkler. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ich jemals Außenminister werde.« Er ging zur Tür. »Und es würde mich kein bisschen freuen, wenn dieses bedeutende Amt in die Hände meines bolschewistischen Bastards fallen würde.« Mit diesen Worten verließ er Ethels Büro.
Ethel standen Tränen in den Augen.
Daisy legte den Arm um Lloyd. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Mach dir keine Gedanken«, entgegnete Lloyd. »Ich bin weder schockiert noch enttäuscht.« Das stimmte zwar nicht, aber er wollte nicht wie ein Weichling erscheinen. »Er hat mich schon vor langer Zeit von sich gewiesen.« Er blickte Daisy tief in die Augen. »Ich habe das Glück, dass es andere Menschen gibt, die mich lieben.«
Unter Tränen sagte Ethel: »Das ist nur meine Schuld. Ich hätte ihn nicht hierherbitten sollen. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht gut ausgeht.«
»Denk dir nichts dabei«, sagte Daisy. »Dafür habe ich gute Neuigkeiten.«
Lloyd lächelte sie an. »Welche denn?«
Daisy blickte Ethel an. »Bist du bereit?«
»Kommt darauf an.«
»Na los«, sagte Lloyd. »Was ist?«
»Wir bekommen ein Baby«, sagte Daisy.
In jenem Sommer kam Carlas Bruder Erik nach Hause. Er war mehr tot als lebendig. In einem sowjetischen Arbeitslager hatte er sich mit Tuberkulose angesteckt. Die Russen hatten ihn entlassen, als er zu krank zum Arbeiten geworden war. Wochenlang hatte er an den unmöglichsten Orten übernachtet, war auf Güterzügen mitgefahren oder hatte sich eine Mitfahrgelegenheit bei einem Lastwagenfahrer geschnorrt. Barfuß und in verdreckter Kleidung traf er im Haus der von Ulrichs ein. Sein Gesicht sah aus wie ein Totenschädel, und er schien mit einem Bein im Grab zu stehen.
Doch er starb nicht. Vielleicht lag es daran, dass er nun bei Menschen war, die ihn liebten; vielleicht lag es am warmen Wetter, als der Winter dem Frühling wich. Vielleicht lag es einfach nur an der Ruhe. Sein Husten ließ nach, und er wurde kräftiger, sodass er bald im Haus helfen konnte. Er nagelte Bretter vor die zerbrochenen Scheiben, reparierte das Dach und reinigte verstopfte Abflüsse.
Glücklicherweise war Frieda Franck Anfang des Jahres auf eine Goldader gestoßen. Ihr Vater Ludwig war bei einem Bombenangriff auf seine Fabrik getötet worden, und eine Zeit lang waren Frieda und ihre Mutter genauso mittellos gewesen wie alle anderen. Dann aber bekam Frieda eine Anstellung als Krankenschwester im amerikanischen Sektor. Kurz darauf, so erzählte sie Carla, hatte eine kleine Gruppe amerikanischer Ärzte sie gebeten, ihren Überschuss an Essen und Zigaretten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, und dafür nur
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