Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
ungerecht.«
Ada überraschte sie beide mit einem Zitat aus dem Buch Hiob: »Der Herr gibt, und der Herr nimmt. Gelobt sei der Name des Herrn.«
Carla glaubte nicht an Gott – kein göttliches Wesen hätte die Vernichtungslager der Nazis erlauben dürfen –, dennoch tröstete sie dieser Spruch. Er ermahnte den Menschen, im Leben alles hinzunehmen, auch den Schmerz der Geburt und die Trauer des Todes.
Liebevoll betrachtete Carla ihren kleinen Sohn. Sie würde für ihn sorgen, würde ihn füttern und wärmen, schwor sie sich, egal welche Steine ihr das Leben in den Weg legte.
Er war das schönste Kind auf Erden, und sie würde ihn ewig lieben.
Der kleine Walter wachte auf, und wieder gab Carla ihm die Brust. Er saugte zufrieden und schmatzte leise, während die Frauen ihm zuschauten.
Für kurze Zeit war dieses Schmatzen das einzige Geräusch in der warmen, schummrig beleuchteten Küche.
Die erste Rede, die ein neuer Parlamentsabgeordneter hält, wird Jungfernrede genannt und ist meist langweilig. Bestimmte Dinge müssen gesagt, bestimmte Phrasen benutzt werden, und die Konvention verlangt ein Thema, das nicht kontrovers ist. Parteifreunde und Gegner gratulieren dem Neuling gleichermaßen; die Traditionen sind gewahrt, das Eis gebrochen.
Seine erste echte Rede hielt Lloyd Williams ein paar Monate später während der Debatte über das Nationale Versicherungsgesetz. Das war sehr viel beängstigender.
Bei der Vorbereitung hatte er zwei Redner vor Augen. Sein Großvater, Dai Williams, benutzte Sprache und Rhythmen der Bibel, nicht nur in der Kapelle, sondern auch – und vielleicht gerade –, wenn er über die Entbehrungen und Ungerechtigkeiten im Leben eines Bergmanns sprach. Er benutzte kurze, aber an Bedeutung reiche Wörter: Mühsal, Sünde, Gier. Er sprach vom Herd und der Grube und dem Grab.
Churchill tat das Gleiche, besaß aber den Humor, der Dai Williams abging. Seine langen, hoheitsvollen Sätze endeten oft mit einem unerwarteten Bild oder einer Bedeutungsumkehr. Als Redakteur der Regierungszeitung British Gazette hatte er während des Generalstreiks von 1926 die Gewerkschafter gewarnt: »Seid euch über eines im Klaren: Sollten wir von euch jemals einen weiteren Generalstreik bekommen, bekommt ihr von uns eine weitere British Gazette .« Eine Rede erforderte solche Überraschungen, fand Lloyd; sie waren wie Rosinen in einem Brötchen.
Doch als er aufstand und zu sprechen begann, kamen ihm seine sorgfältig zurechtgeschmiedeten Sätze mit einem Mal künstlich vor. Sein Publikum empfand es offenbar genauso: Lloyd spürte, dass die fünfzig oder sechzig Abgeordneten, die zugegen waren, nur mit halbem Ohr zuhörten. Einen Augenblick befiel ihn Panik: Wie konnte er mit einem Thema langweilen, das für jene Menschen, die er vertrat, von so grundlegender Wichtigkeit war?
Auf der vordersten Regierungsbank sah er seine Mutter, jetzt Schulministerin, und seinen Onkel Billy, den Kohleminister. Billy Williams hatte mit dreizehn im Bergwerk angefangen; Ethel war gleich alt gewesen, als sie auf Tŷ Gwyn gelernt hatte, Fußböden zu schrubben. In dieser Debatte ging es nicht um ausgefeilte Phrasen, sondern um ihre Lebensgeschichte.
Nach nur einer Minute schaute Lloyd nicht mehr auf sein Manuskript, sondern sprach frei. Er erinnerte an das Elend von Bergmannsfamilien, die durch Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfälle plötzlich ohne einen Penny dastanden, und schilderte Szenen, die er aus erster Hand im Londoner Eastend und im Kohlerevier von Südwales beobachtet hatte. Seine Stimme verriet die Gefühle, die er dabei empfand, was ihm ein wenig peinlich war, doch er machte unbeirrt weiter, denn er spürte, dass sein Publikum ihm immer mehr Aufmerksamkeit schenkte. Er sprach von seinem Großvater und anderen, die die Labour-Bewegung mit dem Traum von einer umfassenden Arbeitslosenversicherung begonnen hatten, die die Angst der Menschen vor Verelendung für immer beenden sollte.
Als Lloyd sich setzte, erntete er einen Sturm der Begeisterung. Auf der Besuchergalerie lächelte seine Frau Daisy stolz und zeigte ihm den erhobenen Daumen.
Von einem warmen Gefühl der Zufriedenheit erfüllt, hörte Lloyd sich den Rest der Debatte an. Er hatte den Eindruck, seine erste Prüfung als Abgeordneter bestanden zu haben.
Nach der Sitzung sprach ihn in der Lobby ein Labour-Einpeitscher an, einer der Leute, die dafür sorgen sollten, dass die Abgeordneten nach der Parteilinie abstimmten. Er beglückwünschte Lloyd zu seiner Rede
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