Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
hinausschicken?«
Der Offizier schaute zweifelnd drein. Vermutlich verstieß es gegen irgendeine Vorschrift, Kanapees an hungernde Deutsche zu verteilen. Dann aber seufzte er. »Also schön.«
Ein paar Minuten später kamen Partygäste mit Tabletts voller Sandwiches und Kuchen aus dem Haus, die sie an die Hungernden verteilten. Carla lächelte. Die Kühnheit ihrer Mutter hatte sich wieder einmal bezahlt gemacht. Sie nahm sich ein großes Stück Obstkuchen und schlang es heißhungrig herunter. Es enthielt mehr Zucker, als sie in den letzten sechs Wochen zu sich genommen hatte.
Dann wurden die Vorhänge zugezogen, die Gäste kehrten ins Haus zurück, und die Menge zerstreute sich. Maud und Ada schnappten sich wieder den Karren, und die drei Frauen setzten ihren Heimweg fort.
»Gut gemacht, Mutter«, lobte Carla. »Eine Stange Gitanes und eine kostenlose Mahlzeit, und das alles an einem Nachmittag.«
Es war spät, als sie nach Hause kamen. Sie brachten den Karren zu ihren Nachbarn, von denen sie ihn geliehen hatten, und gaben ihnen eine halbe Packung Gitanes als Bezahlung.
Die drei Frauen wohnten nur noch in der Küche, in der sie auch nachts auf Matratzen schliefen, denn jetzt, im Winter, war es schwierig genug, auch nur dieses eine Zimmer zu heizen. Früher war der Küchenherd mit Kohle befeuert worden, doch Kohle war dieser Tage kaum zu bekommen. Also musste man ersatzweise Bücher, Zeitungen, ausrangierte Möbel, sogar Gardinen verbrennen.
Sie schliefen paarweise: Carla mit Rebecca, Maud mit Ada. Ada schürte das Feuer mit alten Zeitschriften, die Rebecca vom Speicher geholt hatte. Maud streckte die Reste der Bohnensuppe,die es zu Mittag gegeben hatte, mit Wasser, und wärmte sie zum Abendessen auf.
Als Carla sich aufsetzte, um die dünne Suppe zu trinken, durchzuckte ein furchtbarer Stich ihren Unterleib. Es war keine Zerrung vom Schieben des Karrens, erkannte sie sofort; das war etwas anderes.
»Mutter«, sagte sie ängstlich, »ich glaube, das Baby kommt.«
»Es ist doch viel zu früh!«
»Ich bin in der sechsunddreißigsten Woche«, erwiderte Carla, »und ich habe die Wehen.«
»Dann sollten wir uns bereitmachen.«
Maud ging nach oben, um Handtücher zu holen.
Ada holte einen Holzstuhl aus dem Esszimmer. Mithilfe einer Stahlstange aus einem ausgebombten Haus, die den Frauen als Allzweck-Werkzeug diente, zerschlug sie ihn in kleine Stücke. Dann schürte sie das Feuer im Ofen.
Carla legte die Hände auf ihren schwangeren Leib. »Du hättest ruhig noch warten können, bis es ein bisschen wärmer ist«, murmelte sie.
Es dauerte nicht lange, und sie hatte so starke Schmerzen, dass sie die Kälte nicht mehr fühlte. Die ganze Nacht lag sie in den Wehen, von furchtbaren Schmerzen geplagt. Maud und Ada hielten ihr abwechselnd die Hand, während sie stöhnte und schrie. Rebecca schaute zu. Ihr Gesicht war bleich, und sie fürchtete sich.
Das graue Licht des Morgens drang bereits durch die Zeitungen, mit denen die Küchenfenster zugeklebt waren, als das Kind endlich kam. Nach einer letzten schmerzhaften Wehe zog Maud es zwischen Carlas Beinen hervor.
»Es ist ein Junge«, verkündete sie.
Sie blies dem Kind aufs Gesicht und öffnete ihm den Mund, und es gab seinen ersten leisen Schrei von sich.
Dann legte sie das Baby Carla in die Arme und schob ihr Sofakissen aus dem Wohnzimmer in den Rücken, damit sie sich aufsetzen konnte.
Der Junge hatte dichtes, dunkles Haar.
Maud band die Nabelschnur mit einem Baumwollfaden ab und schnitt sie durch. Carla öffnete ihre Bluse und legte sich das Kind an die Brust.
Sie hatte Angst, keine Milch zu haben. Gegen Ende ihrer Schwangerschaft hätten ihre Brüste anschwellen und tropfen müssen, aber so war es nicht gewesen – vielleicht, weil das Baby zu früh war, vielleicht aber auch, weil die Mutter an Unterernährung litt. Doch nach ein paar Augenblicken des Saugens spürte Carla einen seltsamen Schmerz, und die Milch begann zu fließen.
Kurz darauf schlief der Säugling ein.
Ada brachte eine Schüssel mit warmem Wasser und einen Lappen und wusch dem Kind sanft Kopf und Gesicht, dann den winzigen Körper.
Rebecca flüsterte: »Er ist wunderschön.«
»Mutter«, sagte Carla, »sollen wir ihn Walter nennen? Papa hätte sich gefreut.«
Maud war so gerührt, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Tut mir leid«, sagte sie verlegen und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ich wünschte nur, dein Vater könnte den Kleinen sehen. Es ist so
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