Winter der Zärtlichkeit
nachfragen zu müssen. Meg hatte ihr erzählt, dass der Hausverwalter in einem Wohnwagen neben dem Stall wohnte. Nicht erwähnt hatte sie jedoch, dass er Anfang dreißig war und nicht in den Sechzigern, wie Sierra vermutet hatte. Außerdem sah er bemerkenswert gut aus: schlanker Körper, blaugrüne Augen und dunkelblondes Haar, das mal wieder geschnitten werden musste.
Bei diesen Gedanken errötete sie leicht und schob Liam schnell in Richtung Küche.
Der große Raum hatte denselben schönen Holzfußboden und war mit modernen Haushaltsgeräten ausgestattet, die neben dem alten schwarzen Holzofen in der linken Ecke recht eigentümlich wirkten. Der Tisch war lang und rustikal, mit Holzbänken an jeder Seite und einem Stuhl an jedem Ende.
„Solche Tische sind Tradition bei den McKettricks“, verkündete eine männliche Stimme hinter ihr.
Sierra schreckte hoch und drehte sich rasch. Vor ihr stand Jesse.
„Entschuldigung“, sagte er. Er sieht gut aus, dachte sich Sierra. Obwohl er eine ähnliche Haarfarbe wie Travis und auch seinen Körperbau hatte, ähnelten die beiden sich überhaupt nicht.
„Kein Problem“, erwiderte Sierra.
Erwartungsvoll riss Liam den Kühlschrank auf. „Mortadella!“, schrie er triumphierend.
„Heißa“, erwiderte Sierra mit einem trockenen Unterton, der an ihren Sohn vollkommen verschwendet war. „Wo Mortadella ist, muss auch Weißbrot sein.“
„Jesse!“, erklang Travis’ Stimme von der Eingangstür. „Komm und hilf mir!“
Nach einem freundlichen Lächeln in Sierras Richtung machte Jesse sich auf den Weg.
Sierra zog den Mantel aus, hängte ihn an einen Haken neben der Hintertür und forderte Liam auf, dasselbe zu tun. Eine Sekunde nachdem er das getan hatte, widmete er sich umgehend wieder der Mortadella. In einer bunt getupften Tüte entdeckte er Brot und begann, sich ein Sandwich zu machen.
Während Sierra ihn dabei beobachtete, spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Herzen. Liam war sehr eigenständig. Das hatte er lernen müssen, bei ihren vielen Nachtschichten im Club. Die alte Mrs. Davis von der Wohnung gegenüber war zwar ein gewissenhafter Babysitter gewesen, aber eben kein Mutterersatz.
Nachdem Liam am Tisch Platz genommen hatte, setzte Sierra Kaffee auf. Ihr Sohn saß mit dem Rücken zur Wand und konnte sie in der Küche beobachten.
„Cooles Haus“, bemerkte er zwischen zwei Bissen, „aber es spukt.“
In aller Ruhe nahm Sierra eine Suppendose vom Regal, öffnete sie, schüttete den Inhalt in einen Kochtopf und stellte ihn auf den modernen Gasherd. Liam war ein fantasievolles Kind, das oft überraschende Dinge von sich gab. Darum ließ Sierra gern ein paar Sekunden vergehen, bevor sie ihm antwortete.
„Wie kommst du darauf?“
„Weiß auch nicht“, meinte Liam kauend. Auf der Herfahrt hatten sie in einem Imbiss gefrühstückt, aber das war bereits Stunden her. Er musste sehr hungrig sein.
Wieder bekam sie ein schlechtes Gewissen, diesmal noch heftiger als zuvor. „Komm schon“, stupste sie ihn an. „Dafür muss es doch einen Grund geben.“ Natürlich gibt es einen Grund, dachte sie. Der Friedhof der McKettricks – kein Wunder, dass er an den Tod dachte. Sie hätte warten und die Fahrt irgendwann allein unternehmen sollen, statt Liam mitzuschleppen.
Liam schaute sie nachdenklich an. „Da liegt so eine Art ... Schwirren in der Luft“, sagte er. „Kann ich mir noch ein Sandwich machen?“
„Nur wenn du mir versprichst, zuerst was von der Suppe zu essen.“
„Abgemacht“, versprach Liam.
Sierra ging zu dem alten Geschirrschrank an der Wand neben dem Herd, obwohl sie nicht vorhatte, das unschätzbar wertvolle Geschirr darin zu benutzen.
Viele Generationen ihrer Familie hatten von diesen Tellern gegessen.
Ihr Blick blieb an einer Teekanne hängen. Sie sah gleichzeitig robust und wertvoll aus. Gebannt öffnete sie die Glastür und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, aber nur mit den Fingerkuppen.
„Die Suppe kocht über“, verkündete Liam.
Entsetzt schreckte sie auf, machte auf dem Absatz kehrt und zog den Kochtopf von der Flamme.
„Mom“, murmelte Liam.
„Was?“
„Beruhige dich, es ist doch nur Suppe.“
Im selben Moment steckte Travis den Kopf zur Küchentür herein. „Die Sachen sind oben“, sagte er. „Brauchen Sie sonst noch etwas?“
Sierra starrte ihn lange an, als ob er eine fremde Sprache spräche. „Ahm, nein“, sagte sie schließlich. „Danke.“ Wieder eine Pause. „Möchten Sie etwas
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