Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
davon bin ich nicht nur ihre Freundin, sondern auch immer noch eure Anwältin. Hier und jetzt teile ich dir einfach nur mit, was das Gericht im Hinblick auf dein Wohlbefinden für
angemessen
hält.«
Sie betonte das Adjektiv mit Nachdruck. Sachlich und routiniert, Richard wäre stolz auf sie. Susan dagegen war es weit weniger. Eines war gewiss: Die beiden Starrs zu betreuen war noch nie einfach gewesen.
Wie konnte man gleichgültig bleiben, wenn ein Mädchen mit einem so klaren, offenen Blick einen anlächelte oder anklagte?
Sie waren Hunderte von Meilen voneinander entfernt, doch ihr war, als stünde Winter vor ihr, in all ihrem Zorn.
Es ist nun mal dein Job, Susan!,
musste sie sich in Erinnerung rufen.
»Einverstanden, Frau Anwältin«, zischte Winter nun. »Besten Dank.«
Als Susan den Mund öffnete, um weiterzusprechen, hatte das Mädchen bereits aufgelegt.
Winter ließ sich kraftlos zu Boden gleiten, zog die Knie an die Brust und weinte. Der Zustand ihrer Großmutter verbesserte sich nicht. Seit mehr als zwei Wochen wartete sie auf die Bewilligung, sie besuchen zu können, und in der Zwischenzeit hatte das Sozialamt sie an der St Dewi’s angemeldet.
Die Tränen rannen lautlos über ihr Gesicht, dann begann sie zu schluchzen.
Sie wollte ihr altes Leben zurück. Mit aller Kraft.
Solange sie überzeugt war, dass es sich um eine vorübergehende Situation handelte, konnte sie alles ertragen, doch nun kam sie sich vor wie in dem Albtraum der vergangenen Nacht. Sie steckte in der Falle, bewegte sich über dunkle Treppen, die nirgendwohin führten, wohin sie sich auch wandte.
Zum ersten Mal, seit ihre Großmutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde, verlor sie die Nerven.
Es war furchtbar und befreiend.
Dai Chiplin wagte lange Zeit nicht, sich Winter zu nähern. Er hatte gleich gemerkt, dass sie es nicht schätzte, wenn man sie bedrängte, deshalb hielt er sich abwartend im Hintergrund.
Sie war noch nicht zu ihm zurückgekehrt, und erst in einer leisen Szene seines Lieblings-Trickfilms hörte er plötzlich, dass sie weinte.
Beim Geräusch seiner Schritte auf dem Teppichboden hob sie ruckartig den Kopf.
Oh Gott,
dachte Winter, als sie ihn sah,
ich sehe bestimmt grauenvoll aus!
Das Schlimmste war vorbei, sie fühlte sich leer und seltsam ruhig. Aber das Weinen hatte auf ihrem Gesicht ein Geschmier aus Tränen und Wimperntusche hinterlassen.
Der Junge zögerte einen Augenblick. In Winters geröteten Augen funkelte die Iris wie eine silberne, flüssige Scheibe und strahlte in einem unglaublich traurigen Licht …
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und setzte sich neben sie.
»Weinst du wegen deiner Oma?«, fragte er. »Mama und Papa sagen, es geht ihr schlecht.«
Seine Nähe gab ihr Trost und Winter fühlte sich etwas schuldig.
»Ja, das auch. Aber es geht schon wieder.«
Dai antwortete mit einem bittersüßen Lächeln.
Sie verharrten eine Weile schweigend und betrachteten die Wand gegenüber, auf der die Schatten der dicht belaubten Bäume im Garten tanzten.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Winter schließlich und erhob sich.
Dai sprang auf, strahlend, als sei nichts geschehen. »Vielleicht ist noch Kuchen da!«, rief er.
Er nahm sie am Ärmel und führte sie in die Küche. Aus welchem unerklärlichen Grund er einen Wirrkopf wie sie so rasch ins Herz geschlossen hatte, war Winter ein Rätsel.
»Weißt du was?«, sagte sie unvermittelt, als sie vor einer Tasse Tee saßen. »Ich glaube, ich werde etwas länger hierbleiben als geplant.«
Dai schluckte und grinste.
»Es wird dir gefallen«, versicherte er.
Sie war vom Gegenteil überzeugt, lächelte jedoch zurück.
A n ihrem ersten Schultag war Winter auf dem Weg zur St Dewi’s so in Gedanken versunken, dass sie Gareth und Eleri neben sich kaum wahrnahm.
Der milchig weiße Himmel spiegelte sich in den zahlreichen Pfützen auf der Straße, die Luft war windstill und klebrig feucht.
Das Klima trug ebenfalls dazu bei, dass sie es bereute, aufgestanden zu sein.
»Literatur in der ersten Stunde?«, fragte Eleri, um ein harmloses Thema aufzugreifen. Sie hatte ein sehr lebhaftes Temperament, und es war ihr unerträglich, auf dem ganzen Schulweg zu schweigen. »Dann hast du die Bertrand! Ein softer Einstieg, da hast du Glück! Ich hatte letztes Jahr die Fowler. Eine schöne Stunde Biologie, zum Aufwärmen …«
»Wie grausam!«, kommentierte Gareth.
Eleri ignorierte ihn.
»Es war wirklich nicht schön. Zum Glück hatten wir danach
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