Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
immer, ohne sie anzusehen.
Richard Moore konnte nervtötend sein, wenn er wollte.
»Ja«, erwiderte er dann in bestimmtem Ton. »Ich habe die Situation eingehend geprüft. Himmel noch mal! Ich habe alle Akten erneut durchgelesen und mir den ganzen Vormittag die psychologischen Ausführungen der Norton angehört, Susan.«
Er gab sich alle Mühe, unerschütterlich und gelangweilt zu wirken, doch die Anwältin ließ sich nicht täuschen. Der Fall Starr war von all denen, die seiner Supervision unterstanden, der schwierigste, und Moore war nicht so hartgesotten, wie er zu sein vorgab.
Sie versuchte einen letzten Vorstoß.
»Winter aus London wegbringen, in ihrem Alter …«
»Das ist es ja gerade«, bekräftigte der Richter, »das Mädchen braucht jemanden, der sich ihrer annimmt. Die Chiplins wurden mir als eine geeignete Familie empfohlen, sie bieten ihr ein sicheres Umfeld. Sie verfügen sowohl über die notwendigen Mittel als auch über die nötigen Kompetenzen. Außerdem haben sie mir bereits grünes Licht gegeben.«
Es schien in der Tat eine vernünftige Lösung. Zuverlässige Leute und etwas Stabilität.
Doch Richter Moore war nie bei den beiden Starrs zum Abendessen gewesen und hatte sie nie zusammen erlebt, im perfekten Mikrokosmos ihrer Küche.
»Richard, darf ich ihr wenigstens versprechen, dass ihre Großmutter zu ihr kommen wird, sobald es ihr besser geht?«, fragte sie zögernd.
Moore nickte langsam.
»Gewiss, wenn es so weit ist«, stimmte er zu, »aber der Umgang mit einer Person in vegetativem Zustand tut einem Mädchen in ihrem Alter nicht gut. Die klinischen Befunde schließen dauerhafte neurologische Schäden im Moment nicht aus, Susan. Auch die Norton war diesbezüglich kategorisch. Für den Augenblick ist es die beste Lösung, das Mädchen anderswo unterzubringen. Oder willst du etwa einen Teenager mit einer Alzheimerpatientin zusammenleben lassen?«
Susan Bray fühlte Widerwillen in sich aufsteigen und reagierte genervt.
»Die Ärzte haben keinen blassen Schimmer, was der Großmutter fehlt, Richard. Und sie haben kein Recht, sich auf einfache Vermutungen zu stützen!«
Da verstand der Richter. Er bedachte sie mit einem durchdringenden Blick, und sie spürte, wie sie errötete.
»Du bist ihre Anwältin, Bray. Und eine Referentin der Vormundschaftsbehörde«, sagte er betont ruhig. »Muss ich dich daran erinnern, dass ein freundschaftliches Verhältnis zu den Starrs äußerst unprofessionell wäre?«
Susan Bray fasste sich rasch und winkte mit einer Geste ab.
Sie griff nach dem Telefon und wählte die Nummer auf dem obersten Blatt der Formulare, die der Richter ihr hingeschoben hatte.
Nach dreimaligem Klingeln ertönte
Greensleeves
, von einem Streichorchester gespielt, und eine Tonbandstimme antwortete.
»St-Dewi’s-Schule, Guten Tag. Um mit dem Verwaltungssekretariat zu sprechen, wählen Sie bitte die Eins. Das Sekretariat der Schulleitung erreichen Sie unter der Zwei …«
Sie führte die Anweisungen mit so grimmigem Nachdruck aus, dass Richter Moore den Kopf schüttelte.
»Hier spricht Rechtsanwältin Susan Bray von der Vormundschaftsbehörde. Ich möchte für ein von mir betreutes Mädchen ein Aufnahmeverfahren in die Wege leiten …«
D ie Abende bei den Chiplins waren immer sehr chaotisch. Winter empfand sechs unter demselben Dach lebende Personen als etwas Grundfalsches. Aber wahrscheinlich war sie einfach nur zu sehr an das Leben mit ihrer Großmutter gewöhnt, um sich so rasch auf einen Wechsel einstellen zu können.
Und um ehrlich zu sein, hatte sie auch gar keine Lust, sich darauf einzulassen, es handelte sich ja bloß noch um weitere zwei Wochen.
Sie wartete, bis der Film, den die Familie sich anschaute, spannend wurde, und verdrückte sich dann durch die Küchentür in den Garten hinter dem Haus.
Die Chiplins hatten vergessen, das Licht anzumachen, aber das nahm sie kaum wahr. Sie empfand die Dunkelheit des Sommerabends als wohltuend.
Jenseits des Gartenzauns erstreckten sich die Schatten der duftenden Weiden, und die Luft war erfüllt von der elektrisierenden Spannung, die ein Gewitter ankündigte.
Winter entfernte sich instinktiv ein paar Schritte von dem Schein der Lampen, der aus den Fenstern drang, und atmete tief durch.
Sie stellte sich vor, ganz allein zu sein, in diesem fast perfekten Moment.
In Wales roch es gleichzeitig süß und torfig nach feuchtem Gras und gefallenem Laub, das in der Erde versank.
Wenn man nicht auf die Stimmen hörte, die
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