Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
sich das Gesicht mit Wasser, um die Spannung zu lösen.
Draußen war es noch dunkel, ein paar vereinzelte Vögel zwitscherten in den Bäumen, was bedeutete, dass der Tag anbrach.
Sie schaute auf den Wecker. Halb sieben.
Es hat keinen Zweck, ins Bett zurückzukehren …
Mit einem Achselzucken wandte sie sich ab und ging in die Küche. Sie wartete, bis ihr Herzschlag wieder regelmäßig wurde, und konzentrierte sich auf die nötigen Handgriffe, um sich eine riesige Tasse Nescafé zuzubereiten.
Das Kaffeearoma war so vertraut und beruhigend, dass sie lächeln musste. Sie konnte es nicht erwarten, Madison anzurufen und ihr zu erzählen …
Dass in Cae Mefus nichts Interessantes geschah. Dass ihr Zuhause und die Großmutter ihr fehlten. Dass sie fast umkam vor Sorge.
Dass der Bibliothekar unsympathisch war und dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie so viel gelesen hatte wie hier.
Winter seufzte. Das würde ein ziemlich rührseliges Telefongespräch werden.
Als sie jedoch an die Bibliothek zurückdachte, kam ihr in den Sinn, dass sie sich ein neues Buch besorgen wollte.
Es war noch so entsetzlich früh …
Vielleicht könnte sie vorher ihre Mails abrufen. Sie wollte gerade in die Mansarde zurückkehren, als sie Geräusche aus dem oberen Stockwerk vernahm.
Ihre Gastgeber waren offenbar Frühaufsteher.
Sie reagierte ganz spontan. Riss ein Blatt vom Magnetblock, der am Kühlschrank klebte, und kritzelte rasch eine Nachricht darauf.
Ich dreh kurz eine Runde.
Bis später,
Winter
Sie streifte den ganzen Vormittag am Fluss Elwy entlang durch das Gehölz.
W as ich möchte, zählt offenbar überhaupt nicht!«
Winters Stimme lag eine gute Oktave höher als normal, aber das Trommelfell der Rechtsanwältin gehörte an dem Nachmittag zu ihren allerletzten Sorgen.
Das Mädchen war fuchsteufelswild. Es war ihr egal, dass Dai im Wohnzimmer saß. Er hätte die Lautstärke des Fernsehers verdoppeln müssen, um das Gespräch nicht mit anzuhören.
Susan hatte Winter noch nie so erlebt, aber sie hätte mit ihrer Reaktion rechnen müssen.
In den vielen Jahren bei der Vormundschaftsbehörde hatte sie eines gelernt: Nimm einen gewöhnlichen Teenager und bring sein ganzes Leben durcheinander, dann kannst du dich auf alles gefasst machen.
Und Winter mit ihrer sehr speziellen familiären Situation konnte zudem nicht im Entferntesten als ein gewöhnlicher Teenager gelten.
»Ist es jetzt sogar dir egal, ob ich Freunde habe oder ein Zuhause? Ob mir die Schule gefällt, in die ich gehe?«
Susan hielt den Hörer etwas weiter vom Ohr weg und wartete, bis Winter sich etwas abgeregt hatte, dabei trommelte sie mit dem Stift auf die Formulare der St Dewi’s.
Hätte Moore ihr nicht die ganze Woche im Nacken gesessen, wäre es ihr vielleicht gelungen, die Norton zu überreden, den Anruf zu erledigen. Sie war schließlich Anwältin, verdammt noch mal, und kein psychiatrischer Notfalldienst.
Als sie den Eindruck hatte, der jungen Starr würde langsam der Atem ausgehen, nahm sie den Diskurs wieder auf.
»Ich weiß, dass das ein Schock für dich ist, Winnie«, sagte sie in ruhigem, besänftigendem Tonfall, »und es tut mir aufrichtig leid. Wir sind alle besorgt um deine Großmutter, und um dich … Aber die Leitung hält es für die beste Lösung und, ehrlich gesagt, bin ich ebenfalls dieser Meinung.«
Winter spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und kämpfte darum, sie zurückzuhalten. Sie war verwirrt und wütend, und obwohl sie wusste, dass es dumm war von ihr, fühlte sie sich verraten. Sie hatte Susan nicht anschreien wollen, doch die Anspannung der vergangenen Tage und die Verwirrung machten sie schwindlig.
Das hätte nicht geschehen dürfen!
, wiederholte eine innere Stimme, und das Leben erschien ihr ungerechter denn je.
Sie hatte Susan Bray immer vertraut, sie hatte sich bis zu diesem Moment den Entscheidungen des Gerichts nie widersetzt, aber sie konnte nicht akzeptieren, dass ihre Existenz plötzlich so durcheinandergebracht wurde.
»Ich bin kein Paket, Susan«, sagte sie mit gedämpfter, aber immer noch wütender Stimme, »ihr könnt mich nicht einfach irgendwohin schicken. Ich dachte, du wärst Omas Freundin … Was meinst du, wie sie darauf reagieren wird?«
Auch das noch! Susan Bray seufzte hörbar und begann sich die Augenlider hinter den Brillengläsern zu reiben.
»Marion wird es akzeptieren, Winter«, versicherte sie ohne Zögern. Sie war es langsam leid, angeklagt zu werden. »Und abgesehen
Weitere Kostenlose Bücher