Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
hören. Sie wünschte sich, in die Nacht hinauszuspazieren, allein sein zu können …
Andrew Lloyds Stimme ließ den Zauber sogleich wieder verfliegen. Er sprach mit jemandem und schien in ihre Richtung zu kommen.
Winter überlegte nicht, sondern glitt rasch seitwärts in die Büsche und versteckte sich.
Ein paar Minuten später trat sie wieder hervor und spürte gleich, dass sie nicht allein war.
Nicht weit entfernt stand jemand, ein junger Mann, aber nicht jung genug, um ein Schüler der St Dewi’s zu sein. Winter musterte sein Gesicht. Ihr schien, dass sie ihn noch nie gesehen hatte.
Er hatte lange, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebundene Haare und eine nicht angezündete Zigarette zwischen den Lippen. Sie hatte ihn nicht näher kommen gehört, und aus einem unerklärlichen Grund bereitete seine Anwesenheit ihr Unbehagen.
»Entschuldige«, wandte er sich höflich an sie, »hast du vielleicht Feuer?«
Okay, Win, nichts Alarmierendes
, entschied sie und atmete durch.
»Tut mir leid, ich rauche nicht.«
»Ach so«, sagte er und sah enttäuscht aus, »ich dachte, ich hätte dich vorhin auf der Veranda gesehen, deshalb hatte ich gehofft …«
Komisch, sie erinnerte sich nicht, ihn auf dem Fest gesehen zu haben, und ein Typ wie er wäre ihr bestimmt aufgefallen … Er war extravagant, hatte etwas an sich, das die Aufmerksamkeit auf sich zog.
Dann kam ihr in den Sinn, dass sie das Feuerzeug eingesteckt hatte, das Cynthia liegen gelassen hatte.
»Warte … Lass mich nachschauen …«
Im Grunde vergab sie sich nichts, wenn sie freundlich war. Sie wühlte in der Tasche und trat ohne Eile näher.
»
Diolch
«, bedankte er sich auf Walisisch. »Vielen Dank, sehr freundlich von dir.«
Er wartete, bis sie vor ihm stand, aber auch dann machte er keine Anstalten, nach dem Feuerzeug zu greifen, das sie ihm hinhielt.
Der Mann hatte einen leicht abwesenden Blick, bemerkte Winter und zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht kam er gerade von der Wodka-Runde.
Winter knipste das Feuerzeug an und eine bläuliche Flamme beleuchtete sie beide.
Während er einatmete, um die Zigarette anzuzünden, und dabei die Hände schalenförmig um die kleine Flamme hielt, kreuzten sich ihre Blicke und ein Schauer durchfuhr Winter.
Sie sprang zurück und begann zu laufen. Der Unbekannte nahm ihre Verfolgung auf.
S ie lief in die falsche Richtung.
Winter rannte wie verrückt und versuchte, Wurzeln und Äste zu umgehen, so gut es ging, doch sie war sich bewusst, dass sie sich immer mehr vom Haus der Parrys und damit von einer Chance auf Hilfe entfernte.
Der Mann war ihr auf den Fersen, und obwohl sie so schnell lief, wie sie konnte, verringerte sich ihr Vorsprung zusehends.
Los, Winter!
Anfangs versuchte sie, in der näheren Umgebung zu bleiben, doch das Adrenalin und die Geschwindigkeit trieben sie immer weiter ins Dickicht hinein, bis sie schließlich die Orientierung verlor.
Sie war noch nie in ihrem Leben so gerannt. Die kalte Luft brannte ihr im Hals und das Herz schien jeden Moment in der Brust zu zerspringen.
Sie musste unbedingt wieder zu Atem kommen.
Ohne anzuhalten, sah sie sich um, in der vergeblichen Hoffnung, ihr Verfolger habe endlich aufgegeben.
»Du kannst nicht ewig wegrennen,
cariad
«, rief er.
Das war richtig, aber höchstwahrscheinlich würde auch er nicht mehr lange in der Lage sein, sie zu verfolgen.
Winter ignorierte das Flehen ihrer Lungen und steigerte noch einmal das Tempo in einer letzten, verzweifelten Anstrengung.
Nach den Wodka-Runden war Trevor nicht mehr in der Lage, eine vernünftige Unterhaltung zu führen, und überhaupt, seit er mit Dylis Allbright zusammen war, fühlte Gareth sich in ihrer Gesellschaft häufig wie das fünfte Rad am Wagen.
Er seufzte und streckte die Beine aus. Immerhin war es ihm gelungen, eine Tüte Kartoffelchips zu ergattern. Im Bewusstsein, dass Claire Mason auf der Tanzfläche inständig versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verspeiste er mit Bedacht einen Chip nach dem andern.
Winter war noch immer nicht zurückgekommen, aber seine Schwester hatte ihn an lange Telefongespräche unter Freundinnen gewöhnt. Und Winter hatte ihre Freundin schließlich seit Wochen nicht gesehen.
Er machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst.
Ich habe ihn abgehängt.
Winter konnte es kaum glauben. Ein erschöpftes Lachen kratzte ihr in der Kehle. Es klang wie ein Röcheln und verursachte ihr einen stechenden Schmerz.
Ich hab’s
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