Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
durchschauen, dass sie den Satz auswendig gelernt haben musste.
»Gut«, antwortete er in bewusst neutralem Tonfall.
Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, wollte es ihr aber auch nicht zu leicht machen, denn Winter Starr gehörte zu seinen bevorzugten Studienobjekten.
Sie sah ihn in der Tat verblüfft an. Sie wirkte hellwach und aufnahmefähig, aber zum Glück noch zu verwirrt, um das, was sie sah, beim Namen nennen zu können.
Winter richtete sich auf, und ihr Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen Maske.
»Ich bin gekommen, um die Formulare zu holen.«
Der Mann nickte und versteckte ein Lächeln hinter der Hand. Das Mädchen ließ sich offenbar auf das Spiel ein.
»Ja, gewiss … Nimm Platz.«
Er öffnete eine Schublade an seinem Schreibtisch und nahm einen Stapel zusammengehefteter Blätter heraus. Er hätte bloß die Hand ausstrecken müssen, um ihr die Blätter zu reichen.
Aber er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und blieb neben ihr stehen.
Dann legte er die Formulare vor sie hin.
Nur ein kleiner Test, mein Mädchen
, dachte er amüsiert.
Winter spürte einen Schauer im Nacken, die unerwartete Nähe verursachte ihr eine Gänsehaut auf der linken Körperseite.
Sie fühlte sich auf einmal verletzlich. Vaughan schien sie zu überragen, und das fahle Licht des Büros warf merkwürdige Schatten auf sein Gesicht.
»Danke«, murmelte sie und konzentrierte sich auf die Blätter.
Winter begann zu lesen und spielte dabei mit der Silberkette an ihrem Hals.
Der Anhänger, die durchsichtige Kristallkugel, fing das Licht ein und warf kleine schillernde Regenbögen auf das weiße Blatt.
Ein eigenartiges Schmuckstück, dachte der Lehrer bei sich und konnte seinen Blick nicht abwenden.
»Du interessierst dich also für Geschichte«, bemerkte er nach einer Weile.
»Ja«, antwortete sie. Sie drückte den Anhänger zwischen den Fingern, einziges Anzeichen ihrer Verlegenheit. »Ihre Stunden über die Untersuchungsmethode haben mir sehr gefallen.«
»Aber sie haben dir nicht ausgereicht, stimmt’s?«
Vaughan lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Er hatte sich nur ganz wenig von ihr entfernt, doch das Kribbeln an ihrer linken Körperseite ließ bereits etwas nach und machte die Situation erträglicher.
Dennoch fühlte sie sich unter seinem eindringlichen Blick weiterhin unbehaglich.
»Keine Angst, ich habe bloß geraten«, beruhigte er sie. »Deine Fragen waren etwas zu spezifisch, um nicht einen ganz bestimmten Grund zu haben.«
Das Mädchen errötete.
»Und?«, beharrte Vaughan freundlich. »Was ist das Thema deiner Untersuchung?«
Okay
, entschied Winter,
dann decken wir die Karten halt auf!
»Auch Sie sind vor Kurzem erst hier angekommen«, erwiderte sie ernst. »Haben Sie sich nie gefragt, was hier vorgeht?«
Der ernste, aufmerksame Gesichtsausdruck passte gut zu ihr.
»Die zuständigen Behörden haben sich bereits zu den Vorfällen geäußert«, wandte Vaughan ein. »Aber ihre Antworten haben dich offenbar nicht zufriedengestellt.«
Winter war sich bewusst, dass sie eine Gratwanderung vollführte. Sie kam sich vor wie ein Artist beim Drahtseilakt.
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haare wogten hin und her und ihr Duft stieg ihm in die Nase. Sein Gesicht verdüsterte sich.
»Darf man den Grund erfahren?«
Winter schaute sich um, unschlüssig, und Vaughan begriff, dass sie überlegte, wie weit sie ihm vertrauen konnte.
»In dieser Gegend von Wales sind bereits früher solche Dinge passiert, wussten Sie das?«, sagte sie dann unvermittelt. Sie hielt den Blick dabei unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, um sich keine noch so kleine Reaktion entgehen zu lassen … »Regelmäßig, und über längere Zeit: verschwundene Personen, mysteriöse Überfälle, merkwürdige Unfälle. Vor weniger als zwanzig Jahren war Cae Mefus alles andere als ein friedlicher kleiner Ort. Und dann plötzlich nichts mehr. Totale Windstille, keine ungewöhnlichen Vorfälle mehr, weder Licht noch Schatten!«
So, so, das Mädchen hat seine Hausaufgaben gemacht
, dachte er.
Vaughan fragte sich, wie er sich verhalten sollte. Sein Gesicht strahlte eine kühle Ruhe aus, das skeptische Interesse eines Forschers, der sich mit einem zwar brillanten, aber naiven Studenten unterhält.
»Und wie erklärst du dir das?«
Winter seufzte entmutigt.
»Das ist ja gerade der Punkt«, gab sie frustriert zu. »Ich kann es mir nicht erklären.«
Eine vorbeiziehende Wolke verdüsterte den Raum, der Lehrer
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