Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
wandte sich ab und ging zum Fenster. Regungslos betrachtete er den Schulhof.
»Zwei Dinge nur, Winter Starr«, fügte er dann hinzu, ohne sich umzudrehen. »Forscher vergessen allzu oft die Tradition … und das Schicksal.«
»Heißt das, Sie glauben an das Schicksal?«, fragte sie mit aufrichtiger Neugier.
Der Lehrer lachte.
»Das war nicht die richtige Frage«, erwiderte er spöttisch.
E s war schon fast Abend, doch Winter saß immer noch im Schulhof auf einer Bank und war unruhig.
Die Schule war inzwischen fast menschenleer.
Die Wolken waren grau und regenschwer geworden, und sie fühlte sich wie der walisische Himmel: Auch in ihrem Kopf würde gleich ein Gewitter losbrechen.
Ereignisse, Gesichter, Albträume prallten in ihrem Geist aufeinander.
Die Gewissheit, dass viele Leute mehr wussten, als sie sagten … Der Biss in Lornas Bein, der so rasch verheilt war.
Winters Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Nein! Den Gedanken konnte sie nicht in Betracht ziehen, nicht ernsthaft.
Es würde allerdings vieles erklären …,
bemerkte eine leise innere Stimme, die sie sich immer anzuhören geweigert hatte.
Nie im Leben! Das ist doch total verrückt!
Sie versuchte, sich mit dem Lichtspiel auf der Kristalloberfläche ihres Anhängers abzulenken. Sie ließ ihn hin und her schwingen und beobachtete, wie der Sonnenuntergang auf dem kleinen Mond funkelte.
Der Anblick war hypnotisch und beruhigend … Als sie klein war, hatte sie Stunden so verbracht. Sie hätte alles gegeben, um sich wieder so unbeschwert zu fühlen wie damals.
»Zum Teufel!«, schnaubte sie schließlich.
Mit einer energischen Handbewegung griff sie nach der Kette und drückte sie fest in der Hand.
Sie stand von der Bank auf und spazierte aus dem Schulhof hinaus.
Andrew Lloyd grüßte sie kurz mit der Hand, als sie am Footballfeld vorbeiging, wo seine Mannschaft trainierte. Doch sie nahm ihn nicht einmal wahr.
Die Trillerpfeife des Trainers schrillte ab und zu, aber es war nur ein weit entfernter Ton ohne Bedeutung.
Winter ging an der Tribüne und der Turnhalle vorbei, immer weiter.
Dann musste sie lächeln, denn sie befand sich vor dem alten Gebäude. Dem Sitz des Nox-Klubs.
»Glauben Sie an das Schicksal?«, hatte sie Vaughan gefragt. Nun begann sie zu begreifen, warum es nicht die richtige Frage gewesen war.
Und du, Winter Starr?
Cameron Farland hatte einen faulen Nachmittag verbracht. Die Leuchter aus Glas und Messing tauchten den Sitz des Nox-Klubs in ein angenehmes Licht, und es gab nichts, was ihm lieber war als der Müßiggang auf den samtenen Klubsofas, während seine intellektuellen Schulfreunde über den Büchern brüteten.
Er war genauso intelligent und brillant wie sie, aber er sah nicht ein, warum er sich vorzeitig den Kopf zerbrechen sollte über Büchern, die gut noch warten konnten, bis er sich in zwei Jahren in Cambridge einschreiben würde.
Camerons Ehrgeiz war auf andere Dinge gerichtet, seine ganz spezifische Wesensart bot andere Vorteile, die weit unterhaltsamer waren …
Zum Beispiel die arme Lorna, die ihn hasste, ihm aber zugleich nicht widerstehen konnte.
Wirklich jammerschade, dass ich ihre Wünsche nicht erfüllen kann
, dachte der Junge zerstreut.
Aber die Regeln waren nun mal so … Schade, dass er nicht geboren war, bevor sie festgelegt wurden. Da wäre Lornas Bereitwilligkeit erst richtig interessant gewesen!
Er musste aufstehen.
Man hatte ihn von früh auf gelehrt, seine Bedürfnisse stets zu überwachen, und in diesem Moment war der Drang so stark, dass er ihn nicht ignorieren konnte.
Er hatte sich unvermittelt bemerkbar gemacht und war so unstillbar geworden, dass Cameron keine Wahl hatte.
Seltsam
, dachte er unwillig, während seine Kehle trocken wurde.
Winter fand die Tür offen. Sie zögerte einen Moment und fragte sich, ob dies das Schicksal sei … Doch sie wusste, dass es zu spät war für einen Rückzieher.
Ihr Herz pochte laut, als sie in den Hauseingang schlich. Sie war so aufgeregt, dass sie zitterte. Sie fühlte sich wie ein übergeschnapptes Rotkäppchen, das sich in die Höhle des Wolfes wagte.
Der Flur war dunkel und verlassen. Kein einziges Geräusch durchbrach die Stille.
Nur schnell einen Blick hineinwerfen, Winter!
, ermahnte sie sich.
Schauer ergriffen sie unvermittelt, während sie durch den Flur ging.
Zu ihrer Rechten war eine Tür. Winter öffnete sie.
»Was zum Teufel tust du hier?«
Cameron Farland fauchte die Frage mit eisiger Stimme, und sie fuhr
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