Winter - Erbe der Finsternis (German Edition)
Fantasie …
Sie überflog rasch die Zeitungsartikel, bald brannten ihre Augen von dem flimmernden Licht des Bildschirms.
Das Letzte, was sie sah, bevor sie einschlief, war ein Foto der Burg Ger Y Goeden, ehe sie vollständig abgebrannt war.
Sie war sich zwar nicht sicher, aber auf dem Giebel an der Frontseite meinte sie die beiden Symbole einer Sonne und eines Sterns zu erkennen.
Das schien ihr irgendwie von Bedeutung zu sein, doch sie wusste nicht, warum.
Schlaf endlich, Winter!,
befahl sie sich schließlich, als ihre Augen zu tränen begannen.
M ist!
Nach dem Dauerregen der vergangenen Tage waren so viele Pfützen auf der Straße, dass es unmöglich war, allen aus dem Weg zu gehen, und Winters All Stars waren nass geworden.
Sie war so tief in ihre Lektüre versunken gewesen, dass sie sich verspätet hatte. Morwenna hatte sie noch nie gebeten, Dai abzuholen, und jetzt riskierte sie gleich beim ersten Mal unpünktlich zu sein.
Um den Bauernhof der Harrisons zu erreichen, wo die Jungs spielten, musste sie ganz Cae Mefus durchqueren. Sie würde es nicht schaffen, ihn noch vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zu bringen …
Winter fröstelte in der Novemberluft und lief in den Wald hinein, um den Weg abzukürzen.
Sie rannte zwischen den Bäumen hindurch, ohne sich um den Morast zu kümmern, in den sie immer wieder einsackte. Die Luft roch herb nach Moos und späten Pilzen, sie war hier feuchter und wärmer als im Ort.
Winter eilte über den Teppich aus welkem Laub. Sie verließ den Pfad und lief mitten durch das Unterholz, folgte nur noch ihrem Orientierungssinn.
Sie war selten bis hierher vorgedrungen. Als sich plötzlich ein schroffer Abhang vor ihr auftat, blieb sie stehen und überlegte, in welche Richtung sie weitergehen sollte. Es war windstill, und inmitten der klingend von den Ästen fallenden Tropfen und der unablässigen Vogelrufe vernahm sie weit entfernt das Geräusch von fließendem Wasser.
Sie musste bis zum Elwy gelaufen sein.
Langsam ging sie weiter, bis der Fluss ihr den Weg versperrte. An der Stelle war er nicht sehr breit, kaum größer als ein Bach, aber es war trotzdem unmöglich, ihn zu überqueren, ohne nass zu werden. Im abnehmenden Licht des Spätnachmittags stieg ein silberner Nebel von der Wasseroberfläche auf.
Winter folgte dem Flusslauf auf der Suche nach einer Furt.
Nachdem sie eine Weile an dem Kiesbett entlanggelaufen war, entdeckte sie endlich einen kleinen Holzsteg. Sie rannte darauf zu.
Kaum hatte sie einen Fuß auf die Holzlatten gesetzt, jagte ihr das Gefühl, nicht allein zu sein, einen Schauer über den Rücken.
Sie überquerte langsam den Steg und sah sich dabei immer wieder um, während der Nebel jedes Geräusch zu verschlucken schien.
Plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie ganz vage eine Gestalt zwischen den Baumstämmen gesehen, nur für einen Augenblick, dann verschmolz das Bild wieder mit den Schatten.
Winter war wie gelähmt.
Einbildung
, sagte sie sich und versuchte, gelassen zu bleiben,
alles nur Einbildung …
Sie klammerte sich mit den Händen an das Holzgeländer und zwang sich weiterzugehen. Als sie in der Mitte des Stegs stand, wurde die Gestalt erneut sichtbar. Sie trat nun aus dem silbernen Nebel heraus und kam mit gemächlichen, schwerfälligen Schritten auf sie zu.
Winter wurde wieder von einem Schauer gepackt und bereute, durch ihr Zögern die unbekannte Gestalt auf sich aufmerksam gemacht zu haben. Ihre Muskeln verkrampften sich, bevor sie einen Gedanken fassen konnte, und sie fragte sich, ob sie fliehen sollte.
»Hab keine Angst, meine Liebe«, sagte eine weibliche, nicht mehr junge Stimme.
Winter kniff die Augen zusammen, um die Frau besser zu sehen: Sie war dunkel gekleidet und ihre grauen Haare standen wirr vom Kopf ab.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Bethan«, antwortete sie, »und du bist vielleicht diejenige, auf die ich gewartet habe.«
Sie blieben stehen und musterten sich gegenseitig in der reglosen, schwebenden Luft. Das Gesicht der Frau war von Runzeln durchfurcht und ließ erahnen, dass sie im Laufe ihres Lebens viel erlebt hatte. Ihre Augen waren tief und voll geheimnisvoller Melancholie.
»Du bist es doch, nicht wahr? Du bist die junge Starr …«
Winter warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
»Wieso?«
Irgendetwas an der Frau zog sie in ihren Bann und beunruhigte sie gleichzeitig: Sie schaute sie an, als würden sie sich kennen.
»Komm mit mir«, forderte Bethan sie auf, »ich möchte dir ein Märchen
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