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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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wurden mindestens 25 Angehörige meiner Familie nach Theresienstadt geschickt; kein Einziger überlebte. Auf der Seite meiner Großeltern väterlicherseits zählen neben ihrer Tochter Greta, dem Schwiegersohn Rudolf und Enkelin Milena, drei Geschwister von Arnošt dazu, eine Schwägerin, ein Schwager, zwei Nichten und ein Neffe. Mütterlicherseits kamen meine Großmutter Růžena, ihre Schwester, ihr Schwager und Neffe um sowie der Bruder von Großvater Alfred, die Schwägerin, zwei Neffen und eine Nichte, deren Mann und zwei Kinder. Einige starben im
Ghetto, wie Růženas Schwager Gustav, aber die meisten wurden nach Osten geschickt. Gustavs Frau Augusta ihre Kinder und ein Enkelkind lebten eine Zeitlang im »Familienlager« in Auschwitz-Birkenau. Meine Verwandten waren unter den Ersten, die nach Theresienstadt kamen; und unter den Letzten, die es verließen. Arnošts Bruder Karel und seine Frau waren auf dem letzten Transport. Damals befand sich ihr 26-jähriger Sohn Gert in einem Arbeitslager bei Auschwitz. Anfang 1945, als das Lager evakuiert wurde, musste er einen Gewaltmarsch zurück in die Tschechoslowakei antreten. Da er von der Unterernährung und vom Flecktyphus geschwächt war, starb er nur wenige Tage vor der Befreiung in einer Scheune. Wie bei so vielen war unser Familienstammbaum radikal gestutzt worden.
    Bild 43
    Der Großvater väterlicherseits der Autorin Arnošt Körbel (hinten links) mit seinen Eltern und Geschwistern. Marta (hinten, Mitte), Irma (vorn links) und Karel (vorn, zweiter von links) kamen ebenfalls im Holocaust um.
    Manchmal denke ich, dass es eigentlich nur zwei Arten von Geschichten gibt. Die einen enden voller Hoffnung, die anderen in Verzweiflung, auch wenn nicht immer offensichtlich ist, zu welcher Kategorie die jeweilige Geschichte zählt. Es gibt wohl kaum einen
schlimmeren Grund für Verzweiflung als trügerische Hoffnung (Hitler hat das eindrücklich bewiesen), und kaum ein Charakterzug ist wertvoller als Trauer und Wut über das Leiden. Das Entscheidende ist weniger, ob eine Geschichte gut ausgeht, sondern ob sie im Kern eine Bestätigung ist, dass das Leben einen Sinn hat. Aus diesem Grund wird dieses Buch über den Krieg, dieses Buch der Erinnerung mit einem Hoffnungsstrahl enden – genau wie die folgende Geschichte:
    Eines Morgens Mitte Juni 1942 stiegen 30 Männer auf die Ladefläche eines heruntergekommenen Lasters und standen dicht an dicht. Werkzeuge lagen auf einem Stapel, dazu zwei Fässer ungelöschten Kalks. Der Laster und seine Fracht holperte an einer Reihe von Städten und Höfen vorbei, Enten und Gänse stoben auseinander, in Teichen planschten fröhlich Kinder, und alte Leute saßen friedlich vor ihren Blockhäusern. Die Männer, die auf der Ladefläche standen, konnten sich über so idyllischen Szenen nicht freuen, denn es handelte sich um Insassen aus Theresienstadt. Plötzlich sahen sie in einiger Entfernung Flammen hochschießen, begleitet von dicken schwarzen Rauchschwaden.
    Ein paar Minuten später hielt das Fahrzeug an einem halbverfallenen, gelben Straßenschild mit dem Namen »Lidice« an. Der Laster kam quietschend zum Stehen; die Männer sprangen herab und sahen sich um. Was von dem Dorf noch übrig war, stand in Flammen. Von Kugeln durchlöcherte Körper waren aufs Geratewohl vor der Hinrichtungswand aus Matratzen und Pritschen aufgestapelt worden. Mit dem silbernen Griff seiner Peitsche zog der deutsche Kommandeur ein Rechteck in den Boden: »Zwölf Meter lang und neun Meter breit und vier Meter tief! Habt ihr verstanden, ihr Hurensöhne aus Jericho, ihr Schweinefresser, ihr Verbrecher?« 66 Die Arbeiter fingen an zu graben. Die Stunden vergingen, es wurde dunkel, die Wachen zündeten Fackeln an. Schwitzend und halb nackt schwangen die Männer die ganze Nacht hindurch ihre Schaufeln. Gegen Morgengrauen brach Lidices glühende Kirche in sich zusammen, die Wände wurden zerstört, als der Kirchturm einstürzte, wobei die Glocke ein letztes Mal ertönte und nachklang. Ein Arbeiter war gelernter Komponist. Als die Kirche einstürzte, fing er leise an zu singen. Es war die
Melodie von Antonín Dvořáks Requiem, mit den Worten: Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla (Am Tag des Zorns, an jenem Tag, wird die Welt in Asche zerfallen) und Agnus Die qui tollis peccata mundi (O Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt). Stunden später hatten sie ihre Grabarbeit vollendet. Den Männern wurde befohlen, den Leichen Geld und Ausweispapiere

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