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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Abreisetag war Sonntag, der 23. Oktober 1944. Viele Mädchen aus L-410 standen auf der Liste; die Gruppe war eine Mischung aus Jungen und Alten.
    Für jeden Transport wurde ein Team gesunder Insassen beauftragt, den Kranken und Alten an Bord des Zuges zu helfen. Eine solche Helferin, Alice Ehrmann, schilderte das Spektakel:
    23. Oktober 1944: Abends an der Schleuse. Um Neun Uhr dreißig die Leute in die Wägen befördern. Die Kranken, die Kranken, die Kranken, Bahren ohne Ende. Und das Ganze, samt dem Verladen des Gepäcks wird von 40 Leuten mit weißen Kappen erledigt. Überall Koffer. Koffer vor der Schleuse, Koffer in der Schleuse, auf den Bahnsteigen, in den Wägen. Und jeder hat so lächerlich wenig, und selbst das wird ihnen vermutlich noch abgenommen …
    Kleine Kinder, drei bis zehn. Schreie. Jedes hat einen kleinen Rucksack … Hier ist kein Mensch, dessen Geschichte keine Tragödie ist; alle sind im Stich gelassen worden.… Einer starrt merkwürdig jene mit verweinten Augen an. Ein anderer ist tapfer. Diejenigen, die gehen, sind zu Stein geworden; die bleiben, schlucken ihre Tränen runter. Am Ende blieb das Gepäck hier; es war kein Platz. 64
    Der Zug kam langsam voran, hielt immer wieder an und ließ andere Züge mit einer höheren Priorität vorüberfahren. Ein Überlebender berichtete, dass er mitten in der Nacht sein Bestimmungsziel erreichte. Die Passagiere wurden von bellenden Hunden, gebrüllten Befehlen und grellen Scheinwerfern begrüßt, die sie blendeten. Nach dem Befehl, die wenigen Habseligkeiten, die sie noch hatten, im Zug zu lassen, taumelten die Häftlinge aus dem Wagen und stellten sich im Hof auf. Von den 1714 Menschen im Zug wurden 200 Frauen und 51 Männer auf Lastwagen geschickt und in ein Arbeitslager gefahren. Die Übrigen, darunter Olga und Milena, wurden zur Gaskammer verdammt.
     
    In Theresienstadt wollten die Deutschen so wenig Spuren wie möglich hinterlassen. Der letzte Transport nach Auschwitz ging am 28. Oktober 1944 ab, fünf Tage nach dem Zug mit Olga und Milena. Zwei Wochen später befahl der Kommandant die Entsorgung der Urnen aus dem Krematorium. Die Arbeit nahm vier Tage in Anspruch. In erster Linie übernahmen Frauen und Kinder die Aufgabe, die mit Ölsardinen bezahlt wurden. Vom Mausoleum wurden lange Reihen aufgestellt, und die Insassen gaben die Holz- und Pappbehälter weiter wie Wassereimer bei einer altmodischen Feuerwehr. Jeder Behälter hatte ein Etikett mit Name (etwa Arnošt Körbel oder Greta Deimlová) und Geburts- und Todesdatum. Die behelfsmäßigen Urnen wurden in Lastwagen geladen, weggefahren und dann – wiederum von Hand zu Hand – ausgeladen, ehe sie geöffnet und der Inhalt in den Fluss Eger (Ohře) gekippt wurde. Die Asche bildete eine Fläche von gut 40 Ar auf der Wasseroberfläche.
    Die Gefangenen vermuteten, dass die Entsorgung der Asche nur die erste Phase einer Strategie war, die Wahrheit dessen, was sich in Theresienstadt abgespielt hatte, zu verbergen. Sie hatten Recht. In den folgenden Wochen befahlen die Deutschen jüdischen Bauingenieuren, ein Lagerhaus für Gemüse und eine große Geflügelfarm zu bauen. Bautrupps machten sich an die Arbeit, aber die Ingenieure wurden schon bald misstrauisch: Warum entwirft jemand ein Lagerhaus ohne Belüftung und mit Türen, die sich von innen nicht öffnen lassen? Warum umgibt man eine Geflügelfarm mit einer über fünf Meter hohen Mauer oder baut eine Umzäunung, die so groß ist, dass die gesamte Lagerbevölkerung darin Platz findet? Warum wurde der Vorrat an toxischen Stoffen gehortet, der eigentlich für die Bekämpfung des Ungeziefers gedacht war? Während die Gefangenen Mutmaßungen anstellten, fragten sie sich auch: Warum sollen wir in dieser Phase des Krieges eigentlich tun, was die SS-Leute befehlen? Die Ingenieure beschlossen, Rahm die Stirn zu bieten. Wir hören auf, kündigten sie an. Wütend schlug der Kommandant ihren Sprecher mehrmals mit einer Pistole, befahl aber nicht, die Männer zu erschießen – zu deren eigenem Erstaunen. Stattdessen fuhr er am nächsten Tag nach Prag, um Rücksprache zu halten. Um diese Zeit war die Rote Armee bereits auf die ersten deutschen Todeslager und Gaskammern gestoßen. Die schreckliche Wahrheit kam auf die Titelseiten aller Zeitungen. Dem Vernehmen nach sagte Eichmann zu seinen Untergebenen: »Ich habe die Nase voll.« Pläne, die restlichen 15 000 Gefangenen in Theresienstadt zu ermorden, wurden ad acta gelegt. 65
     
    Von 1942 bis 1944

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