Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
man eine kritische Wende erreicht habe: Der Krieg näherte sich dem Ende, und die Deutschen, denen allmählich die Arbeitskräfte ausgingen, brauchten jetzt wirklich Nachschub.
Der Transport mit der Bezeichnung »Ek« verließ Theresienstadt am 28. September mit 2500 Männern. Unter ihnen waren Rudolf Deiml und sein Freund Jiří Barbier, der Zimmermann. Gleich nach der Abreise bekamen sie Postkarten, die sie ihren Angehörigen schicken sollten, mit der Nachricht, dass alles in bester Ordnung sei. Als der Zug Dresden erreichte, hielt er an, damit die Wachen die Karten einsammeln und verschicken konnten. Dann fuhr er weiter. »Bis Dresden«, erinnerte sich Barbier, »hatte keiner irgendwelche Zweifel, aber nachdem wir in Richtung Osten (nach Auschwitz) ausfuhren, wurde uns klar, was mit uns passierte.« 61
Die Fahrt dauerte zwei Tage und Nächte. Barbier und Deiml saßen nebeneinander, teilten sich das Brot und das Büchsenfleisch und dachten ganz ruhig nach. Sie versprachen sich gegenseitig, falls einer überleben sollte und der andere nicht, so würden sie die Angehörigen informieren. Am 30. September, um 5 Uhr, erreichte der Zug seinen Bestimmungsort. Laut Barbier:
Wir mussten mit unserem Handgepäck aussteigen und weitere Befehle abwarten. In der Zwischenzeit kamen Gefangene und fingen an, unsere Sachen auszuladen. Sie sagten uns, wir sollten ihnen die Wertgegenstände aushändigen, die wir hatten, aber wir hatten nicht den Eindruck, dass man ihnen trauen konnte. Sie rieten uns, bei den Inspektionen zu leugnen, dass man krank sei, und anzugeben, dass wir Arbeiter wären. 62
Auf dem Bahnsteig drängte Barbier Deiml, seinen Beruf nicht anzugeben, sondern zu sagen, er sei ebenfalls Zimmermann und dass sie beide zusammen arbeiten würden. Deiml wollte sich nicht festlegen. Die Inspektion wurde von Mengele und einem zweiten Arzt namens Schwarz durchgeführt. Jedem Häftling wurden die gleichen Fragen gestellt. Deiml ging vor Barbier.
»Wie ist Ihre Gesundheit?«, fragte Schwarz.
»Gut«, antwortete Deiml.
»Was sind Sie von Beruf?«
»Ich bin Arzt.«
Deiml wurde nach links in die Gaskammern geschickt; Barbier, der Zimmermann, nach rechts. »Damit trennten wir uns«, schrieb Barbier über seinen Freund. »Seinen letzten Blick werde ich nie vergessen.« 63
Anfang Oktober 1944 trafen wunderbare Nachrichten im Lager ein: Es gab keine Transporte mehr. Eine diesbezügliche Meldung wurde ausgehängt und dürfte Freudenjubel ausgelöst haben. Die Nationalsozialisten gerieten jedoch allmählich in Panik. Manche SS-Männer wollten von weiteren Verbrechen Abstand nehmen, um einer künftigen Strafe zu entgehen; andere hatten das gleiche Ziel vor Augen, versuchten aber, alle Zeugen umzubringen. Also wurde die Entscheidung, die Transporte auszusetzen, rasch rückgängig gemacht. Schon wenige Tage später begann eine neue Serie, und noch vor Monatsende sollten acht Züge abfahren, die den größten Teil der im Lager verbliebenen Bevölkerung und die gesamte jüdische Führung an Bord hatten. Die SS-Männer erklärten immer noch, dass die Transporte zu einer neuen Arbeitsstätte gingen, eine Lüge, die von
den aus Dresden eintreffenden Postkarten untermauert wurde. Viele, die im Oktober in die Züge stiegen (darunter Jiří Barbiers Frau und Friedl Dicker-Brandeis, die Kunstlehrerin), gingen davon aus, dass sie von Angehörigen begrüßt würden, die vor ihnen abgefahren waren. Doch die Oktobertransporte klappten nicht ganz so reibungslos wie die im September. Die SS hatte selbst die Auswahl der Passagiere übernommen, und es stellte sich schon bald heraus, dass viele der Aufgerufenen zu alt, zu jung oder zu krank für körperliche Arbeit waren.
Die Tatsache, dass es nun mehr Deportationszüge gab und das damit verbundene Durcheinander störte auch alle anderen Aspekte des Lagerlebens. Es hatte den Anschein, dass jeder Insasse abreiste, auf die Abfahrt wartete oder anderen beim Packen half. Es gab keine Möglichkeit, von den »Ältesten« freigestellt zu werden. Die einzige Instanz, an die man sich wenden konnte, war der launische Lagerkommandant Karl Rahm, der sich den Ruf der Brutalität wohl verdient hatte, aber manchmal noch während die Deportierten in die Züge stiegen, Gnade walten ließ.
Schließlich kam wiederum eine Einberufung. Die 66-jährige Olga und die 12-jährige Milena wurden aufgefordert, sich innerhalb von zwei Tagen am Sammelpunkt, der sogenannten Schleuse, in der Hamburger Kaserne zu melden. Der
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