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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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abzunehmen, die Körper anschließend ins Grab zu werfen und das Ganze mit Erde zu bedecken, sage und schreibe 432 Kubikmeter.
    Bild 20
    Lidice, 10. Juni 1942
    Es folgte die lange Rückfahrt nach Theresienstadt. Bevor sie in Schlaf fielen, nahmen sich die erschöpften Männer die Zeit, gemeinsam mit anderen Insassen das Kaddisch zu singen. Unter denjenigen, welche diese Tortur ertragen hatten, befand sich ein 37-jähriger Journalist mit einer gewölbten Brust namens František R. Kraus. Jahre später erinnerte er sich an die Gefühle am Ende jener zwei elenden Tage:
    Ich lehne mich zurück.… Draußen herrscht tiefschwarze Nacht. Und unter mir, auf den unteren Kojen singt der Komponist leise: »Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux
perpetua luceat eis.« (Gewähre ihnen, o Herr, ewigen Frieden, und möge das Licht ewig auf sie scheinen.) Ein Regen winziger Sterne glitzert draußen hinter den Gittern der Barackenfenster. 67
    Die Deutschen hatten versucht, den Geist der Tschechen zu brechen, indem sie ein Dorf vernichteten und die Insassen Theresienstadts  – ebenfalls ein Werkzeug der Vernichtung – zwangen, sich an dem unbeschreiblichen Verbrechen zu beteiligen. Sie hatten auf diese Weise versucht, ihren Gegnern jede Zukunft zu rauben. Doch die Geschichte hört nicht so einfach auf.
    Zweieinhalb Jahre zuvor hatte František Kraus im ersten Zug von Prag nach Theresienstadt gesessen; er war unter denen gewesen, deren harte Arbeit geholfen hatte, das Ghetto auf seine neue furchtbare Rolle vorzubereiten. Im Herbst 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, aber wiederum zu einem Arbeitstrupp ausgewählt. Er überlebte und gründete eine Familie, vollständig jüdisch und vollständig tschechisch. Seit 1991 ist Františeks Sohn Tomáš der Vorsitzende der Föderation jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik. Im Jahr 1997 half er mir, etwas über das Schicksal meiner Familie in Erfahrung zu bringen, auch das meiner Großmutter Růžena, die in jenen Stunden nach Osten deportiert wurde, als František Kraus und seine Mithäftlinge die Opfer von Lidice begruben und leise vom ewigen Licht sangen.

21
HEULER UND ALBATROSSE
    Im Jahr 1943 zogen meine Eltern, Kathy und ich aus unserer Wohnung an der Kensington Park Road nach Walton-on-Thames, einer malerischen Stadt im Nordwesten der Grafschaft Surrey, knapp 50 Kilometer südlich von London. Dort wohnten wir gemeinsam mit einem tschechischen Paar, den Goldstückers, in einem Backsteinhaus mit vier Zimmern. Hinter dem Haus befand sich ein Garten, davor stand eine merkwürdig stachlige Pflanze namens Araukarie oder Affenschwanzbaum. An Arbeitstagen liefen mein Vater und Herr Goldstücker jeden Morgen einen guten halben Kilometer zur neuen elektrischen Bahnlinie, mit der sie nach London pendelten. Die Ingomar School, wo ich die erste Klasse besuchte, lag auf dem Weg, so dass ich die Männer stets auf dem Fahrrad begleitete. Wie mein Vater hatte auch Eduard Goldstücker die Karls-Universität besucht. Er war ein Gelehrter im Fach deutsche Literatur und arbeitete im Bildungsressort der Exilregierung. Er war, wie ich später erfuhr, Kommunist, aber ein sehr netter – ich hörte ihn nie mit meinen Eltern über Politik streiten.
    In der Schule kam ich mir in meiner braun-weißen Uniform, zu der auch eine Krawatte und ein Strohhut mit gestreiftem Hutband gehörten, wie ein richtiges, englisches Mädchen vor. Zum Mittagessen aß ich jeden Tag kaltes Fleisch mit »Bubble and squeak« (ein Mischmasch aus gekochten Kartoffeln und Kohl, alles zusammen gebraten, der Name stammt von den Geräuschen, die das Gericht nach dem Verzehr im Magen hervorruft). Ich ging gerne zur Schule, weil ich mich dann erwachsen fühlte und weil ich immer schon gerne gelernt habe. Laut meinen Zeugnissen besaß ich »die Fähigkeit zu guten Leistungen, musste jedoch lernen, etwas konstanter zu werden«. Im Rechnen wurde ich ermahnt, »Leichtsinnsfehler« zu vermeiden, und im Zeichnen, meine Arbeit »nicht zu überhasten«.
Selbst bei Schülern in meinem zarten Alter wurden die Künste nicht vernachlässigt. Die kleine Madlen hatte offenbar »ein ausgezeichnetes Rhythmusgefühl« und gab »voller Begeisterung« Klassiker wie »Camptown Races« und »The Lass of Richmond Hill« zum Besten. Die Schule bot Klavierunterricht an, den ich bereitwillig nutzte und mich dabei in einen alten Österreicher (keinen Deutschen) namens Mozart verliebte. In Geographie hatte ich in der ersten Klasse eine Vier minus,

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