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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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nicht gerade günstige Voraussetzungen für eine Karriere in der internationalen Politik, aber im nächsten Halbjahr verbesserte ich mich auf eine Zwei, also bestand noch Hoffnung.
    Ich war erst sechs, aber es war mir bereits ein großes Anliegen, meine Eltern zu beeindrucken. Wie jede englische Privatschule wurden die Schüler in Teams eingeteilt und sammelten Punkte, indem sie bestimmte Tätigkeiten erledigten. Als ich die ersten Punkte beisteuerte, zeigte mein Vater seine Anerkennung. Da ich mehr wollte, fing ich an, mir Heldentaten auszudenken, für die zusätzliche Auszeichnungen verliehen wurden, darunter, wie ich noch gut weiß, dem Lehrer aus einem Rosenstrauch helfen. Über kurz oder lang hatte ich so viele imaginäre Punkte gesammelt, dass ich beschloss, eine besondere Auszeichnung zu erfinden, und sagte meinen Eltern, ich hätte den »Ägyptischen Pokal« gewonnen. Sie wollten die Trophäe gerne sehen, was aus nahe liegenden Gründen unmöglich war. Stattdessen ließ ich mir eine ganze Reihe neuer Flunkereien einfallen, wie gemein doch alle zu mir seien. »Sie zwingen mich sogar, mich auf Nadeln zu setzen!«, rief ich einmal aus. Meine Mutter bestand darauf, zur Schule zu gehen und herauszufinden, was dort mit ihrem armen Kind getrieben wurde. Wie Hus vor langer Zeit vorausgesagt hatte: Die Wahrheit siegte, und ich wurde entsprechend bestraft. Wenn ich später jemals anfing, eine Geschichte zu erzählen, die offensichtlich nicht ganz den Tatsachen entsprach, brauchten meine Eltern lediglich »der ägyptische Pokal« zu murmeln, schon verstummte ich.
    Dáša war die meiste Zeit in der Schule in Wales oder bei unserer Tante und unserem Onkel in Berkhamshire. Also war ich auf einmal die große Schwester. Vier Häuserblocks weiter und auf der anderen Seite einer geschäftigen Straße war ein kleines Lebensmittelgeschäft,
zu dem ich Kathy in ihrem grünen Kinderwagen schob. Ich nahm den Einkaufszettel und die Bezugsscheine mit, aber es gab kaum etwas wie frisches Fleisch oder Obst und für den Kauf von Milch galt eine strenge Obergrenze. Das kam mir damals nicht ungewöhnlich vor, weil es die einzige Realität war, die ich bislang erlebt hatte. Ich bekam auch die Aufgabe, den kleinen Küken Wasser zu geben, die wir im Garten hielten. Beim ersten Mal nahm ich einfach eine leere Milchflasche und füllte sie etwa zur Hälfte. Meine Mutter gab zu bedenken, dass eine Schale vielleicht klüger gewesen wäre, und fragte: »Wie sollten die armen Küken denn deiner Meinung nach trinken?« Ich dachte darüber nach: »Sie haben einen langen Hals.«
    In Walton-on-Thames träumte ich zum ersten Mal davon, Priesterin zu werden, was für eine junge Katholikin zweifellos ein Zeichen großen Ehrgeizes ist. Jeden Abend betete ich zur Jungfrau Maria und richtete mir einen Schlafzimmeraltar her, mitsamt Kerzen und einer silbernen Tasse zum Ersticken der Flammen. Ob es nun der Geruch des verbrennenden Wachses oder der liturgische Rhythmus der Worte waren, der mich am meisten reizte, kann ich nicht sagen, aber dieses religiöse Erlebnis bedeutete mir mehr als meinen Eltern, vor allem meinem Vater, der selten zur Messe ging und wenn, dann beklagte er sich immer wegen der Bitte um Spenden.
    Wenn ich heute zurückblicke, kann ich nicht sagen, was Mutter und Vater durch den Kopf ging, wenn sie sich sorgten, was in der Heimat gerade passieren mochte. Ich weiß allerdings, dass sie alles in ihrer Macht Stehende taten, um das Leben für Kathy und mich so normal wie möglich erscheinen zu lassen. Wir machten Familienausflüge, auch an den Strand, wo ich schwamm und die riesigen Sperren einfach ignorierte, die man dort aufgestellt hatte, um eine deutsche Invasion zu verhindern. An Wochentagen schlüpfte ich manchmal durch die Äste der Hecke, um gemeinsam mit unseren englischen Nachbarn Tee zu trinken. An Sonntagen bewirteten meine Eltern häufig eine Gesellschaft tschechoslowakischer Freunde. Nach dem Essen räumten die Frauen die Tische ab, während die Männer, von denen die meisten in der Regierung Beneš tätig waren, in ernste Gespräche vertieft in unserem Garten auf und ab spazierten. Sie gingen mit den Händen auf dem Rücken, wie
Europäer es häufig tun. Mein Vater hatte meist die Pfeife im Mund und ließ gelegentlich eine Rauchwolke um seinen Kopf aufsteigen. Am Abend tranken die Männer Bier, füllten die Aschenbecher mit Kippen und spielten Mariáš, ein besonderes tschechisches und slowakisches Kartenspiel mit 32

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