Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Spielkarten in vier Farben (Herz, Schell, Blatt und Eichel) und Regeln, die noch komplizierter waren als die von Bridge. Die Frauen tranken Kaffee, tauschten Neuigkeiten aus und lachten miteinander.
Im Frühjahr 1944 bekam ich zum ersten Mal amerikanische Soldaten zu sehen. Viele streunten durch die Straßen der Stadt, wo sie von Kindern belagert wurden, die eine Süßigkeit erbetteln wollten und fragten: »Hast ‚nen Kaugummi, Kumpel?« Andere sah man auf den Landstraßen, wie sie lässig ihre getarnten Jeeps, Laster und merkwürdig aussehenden Amphibienfahrzeuge lenkten, die sogenannten »Ducks«. Sogar die amerikanischen Wehrpflichtigen hatten sauber geschnittene Uniformen in Olivgrün, und ihre Gewehre waren, im Gegensatz zu den britischen, nagelneu. Eine Zeitlang waren überall »Yanks«; und dann, von heute auf morgen, waren sie verschwunden.
Am Morgen des 6. Juni 1944 fand die Operation Overlord, das größte Landungsunternehmen der Kriegsgeschichte, an fünf Brückenköpfen entlang der Küste der Normandie statt. Trotz eines kalten Nordwestwindes überquerten 160 000 Mann den Ärmelkanal. 11 000 Flugzeuge waren in den Himmel aufgestiegen, und es waren so viele Schiffe und Boote im Meer, dass es fast möglich schien, zu Fuß von England nach Frankreich zu gelangen. Die Nachrichten am frühen Nachmittag bestätigten, dass der D-Day, der Tag der Invasion, gekommen war. Die Sprecher, die hocherfreut waren, dass sie über so ein Ereignis berichten durften, erzählten die aufregende Geschichte, wie die Männer und Ausrüstung zusammengezogen, Gewehre und Munition verpackt worden waren und der wichtige Überraschungseffekt bis zum Schluss bewahrt worden war. Die einheimische, französische Bevölkerung hatte man nur eine Stunde im Voraus gewarnt, das Gebiet zu evakuieren: ein verheerendes Bombardement der Straßen, Bahnlinien und Brücken war im Gange. In
einer Abendsendung wurde die Rede des Königs ausgestrahlt, gefolgt von einem Bittgottesdienst, den der Erzbischof von Canterbury leitete. Bis Einbruch der Dunkelheit hatten 9000 alliierte Soldaten das Leben verloren. In den folgenden Wochen schwärmten die Soldaten weiter unablässig nach Frankreich und stießen jeden Tag tiefer vor; die Entscheidungsschlacht um Europa hatte begonnen.
Wir lebten seit über einem Jahr in Walton-on-Thames. Es galt immer noch die Verdunkelung, aber wir machten uns keine großen Sorgen mehr um Bomben. Seit dem D-Day waren die Deutschen doch auf der Flucht – zumindest dachten wir das.
Am 13. Juni, um 4.13 Uhr, ertönte in Gravesend eine Explosion; ein großer Gegenstand war in einem Gemüsebeet gelandet. Zehn Minuten später beschädigte eine zweite Explosion eine Eisenbahnbrücke in London. Seit Monaten kursierten Gerüchte, dass die Deutschen eine Geheimwaffe entwickelten, die zum Einsatz kommen sollte, falls und wenn die Alliierten in Frankreich einmarschierten. Manche munkelten, es handle sich um einen unsichtbaren Strahl, der alles in Schutt und Asche legte, das er erfasste; andere sprachen von einer völlig neuartigen Methode, Giftgas zu versprühen; wieder andere von einer Superbombe, die zerstörerischer als alle bislang entwickelte Waffen sei. Nach dreitägigen Ermittlungen bestätigte die Regierung, dass die Deutschen eine unbemannte Flugbombe namens V1 (V für Vergeltungswaffe) einsetzten. Die Miniflugzeugen gleichenden Bomben mit einer Länge von knapp 8 Metern und einer Spannweite von 5,30 Metern jagten mit einer Geschwindigkeit von 570 km/h heran. Die meisten wurden von Rampen in der Nähe der französischen und holländischen Küste gestartet, einige von tief fliegenden Kampfflugzeugen.
Anfangs nahm Churchill »die unbekümmerte Haltung einer Bulldogge« 68 ein, wie Cadogan in seinem Tagebuch schrieb, und bezeichnete die V1-Flugbomben lediglich als lästige Plage, als letztes Aufbäumen eines verzweifelten Regimes. Als die Opferzahl und der Schaden anstiegen, schenkte er ihnen mehr Beachtung. Viele Briten waren empört darüber, dass die Behörden nicht besser vorbereitet
waren. Mit diesen Angriffen hatten manche Zivilisten mehr Probleme als zuvor mit dem Blitz. Als die Zukunft düster schien, war einem die Bedrohung weniger beängstigend vorgekommen; jetzt, wo der Sieg so nahe war, kam einem die Aussicht auf einen Todbringer, der vom Himmel fiel, wie ein grausamer Trick vor.
Täglich wurden hundert oder mehr Bomben nach England geschickt, und es dauerte einige Wochen, bis die Abwehr imstande war,
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