Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
überhaupt welche abzufangen. Wenn wir das laute Summen hörten, hielten wir den Atem an. Das Geräusch bedeutete, dass die Rakete noch Treibstoff hatte und rasch vorbeijagen würde; sobald das Geräusch abbrach, stoppte auch die Bombe und fiel fast senkrecht zu Boden. Die Engländer nannten die V1 »doodlebugs«, was so viel heißt wie »Heuler« oder »Brummkäfer«, weil sie großen, summenden Insekten glichen. »Man sieht den kleinen schwarzen Körper vorbeisausen«, schrieb ein Brite, der es selbst erlebte, »dahinter flattert etwas, was wie Gaze im Luftzug eines Ventilators aussieht.… Nachts flammt dieser Auspuff wie ein Meteor, und man kann das Ding verfolgen, wie es am Himmel dahinsaust: wie eine Sternschnuppe … unbeirrbar, bösartig, schauerlich zielbewusst.« 69
Das Heulen der Sirenen wurde wiederum zu einem vertrauten Geräusch, und noch einmal machte ich die Erfahrung, lange Stunden mit den Nachbarn in Luftschutzbunkern zu verbringen. Um die Zeit zu vertreiben, sangen wir »A Hundred Green Bottles« vom Anfang bis zum Ende, und dann wieder von vorn. An manchen Tagen saß die ganze Schülerschaft von Walton-on-Thames in Bunkern fest. Die südlich von London liegende Stadt befand sich mitten in der »Bombenallee«, der Flugroute von den V1-Startplätzen zur Hauptstadt. Hinzu kam: Britische Doppelagenten (also englische Agenten, die so taten, als würden sie für die Deutschen spionieren) wurden angewiesen, Berlin mitzuteilen, dass die Bomben über London hinausschießen würden. Die Deutschen verkürzten also die Flugstrecke und schickten auf diese Weise weniger Bomben in die dicht besiedelte Hauptstadt, dafür schlugen mehr in unserer Gegend ein. Am 19. Juni erschütterte eine V1 nur wenige Häuser von uns entfernt den Erdboden; dann gingen noch eine und noch eine runter, insgesamt 18 Bomben, in unserer Stadt. »Warum sind
die Doodlebugs eigentlich immer so in Eile?«, hieß es damals in einem Witz. »Das wärst du auch, wenn dir der Hintern brennen würde!«
Mein Vater war ehrenamtlicher Luftschutzwart. Das hieß, dass er nach der Rückkehr aus London jeden Abend schnell eine Runde durch das Wohnviertel machen musste, um zu prüfen, ob alle die Vorhänge zugezogen hatten, auch wenn die Flugbomben unbemannt waren und nichts sahen. In einer pechschwarzen Nacht rannte er einmal gegen einen Pfeiler vor unserem Haus, schlug sich dabei die Nase blutig und zerbrach die Brille. Ich hatte Mitleid mit ihm, hatte aber damals selbst ein Problem: schlafwandeln. Ob es durch die V1 ausgelöst wurde oder nicht, kann ich nicht sagen, aber wochenlang ging ich ins Bett, ohne zu wissen, wo ich aufwachen würde. Meine Eltern und die Goldstückers hatten Angst, dass unser Haus getroffen werden könnte. Sie kauften einen Morrison-Tisch, benannt nach dem Innenminister Herbert Morrison. Über Nacht wurde der schwere rechteckige Stahltisch zum Mittelpunkt unseres Lebens. Wir nahmen darauf unsere Mahlzeiten ein; die Erwachsenen tranken ihren Kaffee und ihre Drinks, während wir an ihm saßen; Kathy und ich spielten auf ihm; und sobald die Sirene ertönte, hechteten wir alle sechs unter ihn.
Eine V1 schlug vor dem BBC-Hauptquartier ein, zerbrach die Fensterscheiben und beschädigte das Gebäude. Die mittägliche tschechoslowakische Rundfunksendung, die in Kürze beginnen sollte, ging wie geplant weiter, obwohl ein Sekretär und zwei Sprecher verwundet waren. Ein andermal kamen mein Vater und Herr Goldstücker nur wenige Augenblicke, nachdem eine Bombe eingeschlagen war, an der Waterloo Station an. Die Krankenwagen waren noch nicht eingetroffen, und Fahrgäste ließen ihre Aktentaschen fallen, um den geblendeten und blutenden Opfern erste Hilfe zu leisten. Am Sonntag, dem 18. Juni, zerstörte eine Bombe das Dach der Guards Chapel im Zentrum von London, unmittelbar nachdem der Gottesdienst begonnen hatte. Die Trümmer begruben die versammelte Gemeinde, Soldaten und Zivilisten. 121 Menschen kamen ums Leben, und weitere 140 mussten verletzt ins Krankenhaus. Es dauerte zwei Tage, die Toten zu bergen.
Die V1-Angriffe dauerten drei Monate lang, kosteten mehr als 5500 Menschen das Leben und verwundeten drei Mal so viele. Wie schon während der Luftschlacht wurden Zehntausende Kinder evakuiert. Das ganze Land feierte, als im September alliierte Truppen die V1-Startrampen entlang der Nordküste Europas einnahmen, und Minister Morrison bekannt gab, dass die zweite Schlacht um Britannien gewonnen worden sei. Inzwischen waren bereits
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