Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Rom und Paris zurückerobert worden, sowie Brüssel. Die zurückkehrenden Evakuierten verstopften die Bahnhöfe und Metrostationen in London, während in Walton-on-Thames die jahrhundertealten Glocken in der Saint Marys Church wiederum froh läuteten.
Herbst 1944: Die Deutschen wurden an allen Fronten zurückgetrieben. Alliierte Streitkräfte rückten von Süden, Westen und Osten vor, während sie den Gegner unablässig aus der Luft und zur See unter Beschuss nahmen. Im September wurden Luxemburg und die Niederlande befreit. Die Rote Armee marschierte durch Polen, Rumänien und die Balkanhalbinsel und gelangte durch die dichten Wälder der Karpaten an die slowakische Grenze. Im November befreiten Partisanen Griechenland, und Churchill gönnte sich einen wohlverdienten Tag voller Ansprachen und Kranzniederlegungen als Ehrengast bei einem Festgottesdienst und begeisterte ganz Paris. Deutsche Truppen wurden, da ihnen die zerbombten Bahnlinien den Rückzug erschwerten und sie zudem unter Treibstoffmangel litten, gleich scharenweise gefangen genommen. Ein erbeutetes Codebuch ermöglichte es den Amerikanern, den feindlichen Funkverkehr mit den U-Booten zu entschlüsseln. Die Zerstörung von fast 300 deutschen U-Booten innerhalb von wenigen Monaten war die Folge.
Für polnische Demokraten hatte die Aussicht, dass ausgerechnet die Sowjets sie von den Deutschen befreien sollten, den Makel eines nur halb erhörten Gebetes. Im August erfuhr die sogenannte Heimatarmee, die wichtigste Widerstandsgruppe, dass sowjetische Verbände bereits die östlichen Vororte Warschaus erreicht hatten. Statt abzuwarten, bis die Kommunisten die Stadt befreiten, beschlossen die Polen, dies selbst zu erledigen. Eine Streitmacht aus 40 000 Mann
(allerdings mit nur 2500 Feuerwaffen) griff deutsche Militärposten und zivile Einrichtungen an. Es entbrannte ein heftiger Kampf, in dem die gesamte Stadt und das Umland zum Schlachtfeld wurden. Die belagerten deutschen Befehlshaber forderten Verstärkung an und ordneten an, alle Polen zu erschießen. Die Rebellen hatten gehofft, dass eine durch den Aufstand ausgelöste Panik, gepaart mit der Angst vor den anrückenden Sowjets, die Deutschen zur Flucht treiben würde; ihre Rechnung ging nicht auf.
Britische, polnische und südafrikanische Piloten versuchten, die Kämpfer zu retten, indem sie von Stützpunkten in Großbritannien und in Italien aus Nachschub einflogen, aber die Mengen reichten nicht aus. Wenn die Sowjets die Genehmigung erteilt hätten, Landeplätze unter ihrer Kontrolle zu nutzen, hätte man eine effektivere Luftbrücke einrichten können, aber Stalin lehnte dies strikt ab. Nach wochenlangen Kämpfen gewannen die besser ausgerüsteten Deutschen allmählich die Oberhand. Schließlich endete der Aufstand mit einem Debakel. Schätzungsweise 200 000 Polen kamen um, weitere 800 000 gerieten in Gefangenschaft oder wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die Deutschen plünderten jeden Winkel der Stadt, bevor sie den Rest niederbrannten. Als die Rote Armee und ihre polnischen Partisanen im Januar 1945 endlich Warschau betraten, lag die Stadt größtenteils in Trümmern.
In Lublin, dem Zentrum Südostpolens, wurde ein prosowjetisches Regierungsorgan gebildet. Die in London sitzenden polnischen Demokraten hofften darauf, dass die Alliierten ihr Bestreben unterstützten, an jeder Nachkriegsregelung beteiligt zu werden. Präsident Beneš hatte für sie wenig übrig. Die Grenzstreitigkeiten in der Vergangenheit hatten einen üblen Nachgeschmack hinterlassen, und der fähigste polnische Führer, General Władysław Sikorski, war zwei Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz umgekommen. Aus diplomatischer Sicht war Beneš überzeugt, dass die Exilpolen ihr schlechtes Blatt überdies schlecht genutzt hatten. »Polen hat in diesem Krieg einen fundamentalen Fehler begangen«, sagte er einem Freund. »Es kann seine Ziele lediglich mit der Hilfe Sowjetrusslands und der Zusammenarbeit der drei Großmächte erreichen … Die Polen [denken] … dass sie stark genug wären, als Gleichberechtigte über die
Zukunft zu diskutieren … Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass die großen Nationen ihre Fragen stets unter sich auf Kosten der kleinen regeln.« 70
Die Frage, auf die Beneš nicht einging, ist, ob die Polen überhaupt jemals eine Chance hatten. Anders als die Tschechoslowakei hatte ihre Nation schwere Bedenken gegen die Sowjets, die an ihrer Bevölkerung furchtbare Gräueltaten begangen und mehr als
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