Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
vier am Tag abzuschießen, dann sechs, aber nie mehr als 13 Raketen. Das reichte immer noch aus, um den britischen Politikern Kopfzerbrechen zu bereiten, die eine Panik fürchteten, sobald sich die Meldung von der schweren Rakete ausbreitete. Fast zwei Monate lang wurden die Einschlagstellen rasch abgesperrt, und die riesigen Explosionen wurden auf defekte Gasleitungen oder Sabotageakte zurückgeführt; die Regierung dementierte gar, dass es die Albatrosse überhaupt gab. Die Scharade hatte im November ein Ende, als Churchill den Eindruck hatte, er könne nicht länger so tun, als wäre das, was sein Volk sah und hörte, reine Einbildung.
Ab September 1944 bis zum nächsten Frühjahr schlugen über eintausend V2-Raketen auf britischem Territorium ein, etwa die Hälfte davon in und um London. Die tödlichste Rakete traf mitten in den Weihnachtseinkäufen das Woolworth-Kaufhaus in Deptford. So furchterregend die Waffen auch waren, hatten sie keinesfalls eine »vernichtende Wirkung«. Weder hatten sie genügend Sprengstoff geladen, noch konnten sie schnell genug produziert werden, um eine strategische Bedeutung zu erlangen. Die Waffe ließ die britische Kampfmoral gewiss nicht in dem Ausmaß sinken, wie die NS-Führung es sich erhofft hatte. In Wirklichkeit hätten die Deutschen klüger daran getan, in eine leistungsfähigere Flotte von Langstreckenbombern zu investieren. Die Entwicklung von Raketen, die große Strecken zurücklegen, eine große Sprengladung befördern und relativ genau ein Ziel ansteuern konnten, war jedoch im Hinblick auf zukünftige Kriege einigermaßen ernüchternd. »Jedes Mal, wenn eine detoniert«, schrieb George Orwell, »höre ich düstere Andeutungen auf das ›nächste Mal‹ und die Überlegung, dass [wenn es wiederum
zum Krieg kommt] sie imstande sein werden, sie über den Atlantik zu schießen.« 74
Zwei weitere Aspekte der V2-Episode sollten an dieser Stelle erwähnt werden, der erste, weil er die Boshaftigkeit des NS-Regimes illustriert, der zweite, weil er ein Licht auf den amerikanischen Pragmatismus wirft.
Die Raketen wurden in einem Industriekomplex 80 Kilometer nördlich von Berlin, nicht weit von der Ostsee, gebaut. Unter den Arbeitern – oder genauer Sklaven – waren französische, sowjetische, belgische, holländische und deutsche Gefangene, die täglich zwölf Stunden unterirdisch schufteten. Als Nahrung erhielten sie lediglich Kaffee, eine dünne Suppe und Brot. Der Kombination von Unterernährung, verunreinigtem Wasser, schlechter Belüftung, harten klimatischen Bedingungen und körperlicher Misshandlung fielen so viele Arbeiter zum Opfer, dass fortwährend aus den benachbarten Konzentrationslagern Nachschub gebracht werden musste. Im April 1945, unmittelbar vor der Aufgabe der Produktionsstätte, schlossen die Deutschen 1046 Arbeiter in einer Scheune ein und verbrannten sie bei lebendigem Leib.
Der Leiter der technischen Entwicklung der V2 war Wernher von Braun, ein 31-jähriger SS-Sturmbannführer, der Hitler persönlich über die Fortschritte des Projekts auf dem Laufenden hielt. Aufgrund seiner eigenen Redegabe sowie der Bereitschaft der Amerikaner, über die Fehler von Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten großzügig hinwegzusehen, kam es dazu, dass der junge Nationalsozialist einer Bestrafung nach dem Krieg entging. Er wurde später zu einem prominenten Akteur in der Walt-Disney-Fernsehreihe »Tomorrowland« und – wichtiger noch – zu einem Architekten des amerikanischen Raumfahrtprogramms. In Anerkennung seiner Leistungen gratulierte Herrn Braun sogar Präsident John F. Kennedy persönlich, dessen Bruder Joseph jr. 1944 bei einem Bombereinsatz gegen eine V1-Startrampe in Frankreich umgekommen war.
TEIL IV
Mai 1945 – November 1948
Kein Mensch hat mir vorzuschreiben, welche Bücher ich lesen soll, welche Musik ich hören soll oder welche Freunde ich mir aussuchen soll.
JAN MASARYK
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KEINE ENGEL
Im April 1945 kehrte Edvard Beneš in die Heimat zurück, die er sechseinhalb Jahre zuvor verlassen hatte. Eskortiert von der Roten Armee fuhr er mit dem Zug aus der Ukraine in die Stadt Košice im östlichen Teil der Slowakei. Er wurde von begeisterten Dorfbewohnern in ihren Trachten begrüßt. Sie schwenkten Fahnen, jubelten ihm zu und warfen Blumen. Wie es Brauch war, bot ihm ein kleines Mädchen Brot und Salz zur Begrüßung an. Von London aus hatte der Präsident nur über den Äther mit seinem Volk kommuniziert. In den BBC-Sendungen hatte er nie
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