Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
beruhigenden Worten der kommunistischen Führung bekräftigt. Von Moskau aus hielt Gottwald unzählige Rundfunkansprachen über die Bedeutung einer gemeinsamen Kriegsanstrengung. Dabei berief er sich keineswegs auf Marx und die Solidarität der Klassen, sondern auf Hus und den Patriotismus. Als Ziel pries er die Rückkehr der Freiheit und verlor kein Wort über die Weltrevolution. In London äußerten sich Vlado Clementis und die anderen kommunistischen Führer über ihre Ziele mit Worten, die sich von denen der Demokraten kaum unterschieden.
Beneš war ein Demokrat mit sozialistischen Neigungen, wie man heute wohl sagen würde. Er befürwortete eine staatliche Kontrolle von wichtigen Industriezweigen, eine starke Gewerkschaftsbewegung und großzügige öffentliche Dienstleistungen. Er hatte auch eine gewisse Sympathie für die egalitären Ideale des Kommunismus, hatte aber seine Zweifel, dass die Ideologie in der Tschechoslowakei ebenso umgesetzt werden konnte wie in der UdSSR. Er war sich sicher, dass der größte Teil der Bevölkerung dem demokratischen Modell die Treue halten würde, das Tomáš Masaryk vor dem Krieg gegründet hatte. Der alte Masaryk war jedoch, viel stärker als Beneš, ein erklärter und überzeugender Kritiker der Mängel der kommunistischen Ideologie gewesen. Das war auch der Grund, weshalb Lenin seinerzeit Masaryk seinen ernsthaftesten intellektuellen Widersacher in Europa genannt hatte. Beneš, der versuchte, es so gut wie allen recht zu machen, fand sich in einer Position wieder, in der er versuchte, Demokratie zu predigen, eine linke Wirtschaftspolitik umzusetzen, den Westen zu beschwichtigen und gleichzeitig noch Stalin um den Bart zu gehen – und das alles gleichzeitig.
Bei den hektischen Manövern hatten einige demokratische Gefolgsleute des Präsidenten Bauchweh, aber sie konnten kaum etwas dagegen unternehmen. Beneš antwortete auf jede Äußerung von Bedenken mit der Versicherung, dass er genau wisse, was er tue. Jan Masaryk etwa hatte nicht vor, seinen Chef in Fragen der politischen Ideologie zur Rede zu stellen. Sogar seine Begeisterung für die Demokratie hatte aufgrund der Bedenken bezüglich der Sprunghaftigkeit der öffentlichen Meinung nachgelassen; immerhin hatten riesige Menschenmengen Hitler vergöttert, und die britische Bevölkerung hatte Chamberlain nach München Beifall geklatscht. In Masaryks Augen war die größte Sünde der Kommunisten, dass sie sich zu wichtig nahmen. Einem Freund sagte er einmal: »Lenin sagte, das Volk müsse aufhören, Beethoven zu hören, weil er die Macht habe, Menschen glücklich zu machen. Er [Lenin] hatte Angst, dass sie zu weich würden, um die Revolution zu machen. Hier hast du den ganzen Lenin.« 72
Nicht einmal eine Woche nach dem Start der letzten V1 wurden V2-Raketen in den Himmel geschickt. »Aber ich will«, hatte Hitler von seinen Waffenentwicklern verlangt, »vernichtende – ich will vernichtende Wirkung!« 73 Deutsche Ingenieure, die schon lange an Raketenantrieben forschten, schickten sich an, eine Technologie zu entwickeln, die so mächtig war, dass sie ganze Städte in Schutt und Asche legen und so noch den Ausgang des Krieges wenden konnte. Sie produzierten eine 13,5 Tonnen schwere, 14 Meter lange Rakete, die von mobilen Rampen in Holland und Frankreich aus gestartet wurde. Sie schoss 80 Kilometer hoch in den Himmel, bevor sie, ohne allzu große Präzision, in Stadtvierteln, Städten und – häufiger als anderswo – auf leeren Äckern und Flächen Englands einschlug. Im Gegensatz zu den Flugbomben, deren Heulen ihr Kommen ankündigte, flogen die Raketen mit Überschall; sie schlugen ein, bevor man ein Geräusch wahrnahm. Die V1-Flugbomben waren vom Radar erfasst worden, wurden von Heißluftballons behindert und von Jägern und Flaks abgeschossen. Die V2 hingegen flog zu hoch und zu schnell für derartige Abwehrmaßnahmen. Die Wirkung entsprach längst nicht Hitlers Fantastereien, war aber doch so stark, dass Krater
von der Größe eines Busses zurückblieben. Die Raketen erwiesen sich als weit zerstörerischer als eine konventionelle Bombe. Die Briten, die sich für alles einen Kosenamen ausdachten, nannten sie »gooney birds«, ein anderer Name für den Albatros, den großen, plumpen Vogel und, wie in Samuel Taylor Coleridges Gedicht, Vorboten von großem Unheil.
Zum Glück für die Alliierten war die Produktion der V2 überaus kostspielig und der Start sehr aufwändig. Die Deutschen waren anfangs imstande,
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