Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
andere Prioritäten hatte (wie die Apologeten Moskaus argumentierten). Nach ihrem Sieg gingen die Deutschen gewohnt erbarmungslos vor, richteten Tausende von Rebellen hin und schickten einen letzten Zug slowakischer Juden nach Auschwitz.
Als der Krieg zu Ende ging, sahen sich die Slowaken in einer einzigartigen Position. Die Alliierten hatten die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs gefordert, waren aber von Beneš überzeugt worden, den Anspruch der Slowakei auf Unabhängigkeit abzulehnen. Das hieß, dass das Land in den Augen des Westens noch Teil der vereinigten Tschechoslowakei war – und damit auf der Seite der Sieger des Krieges, nicht der Verlierer. Diese nicht zu unterschätzende Portion Glück minderte allerdings nicht die Sehnsucht der Slowaken nach einer Trennung. Wenn sie zusammenkamen, um das Kriegsende zu feiern, war der ganze Platz von slowakischen Fahnen und einzelnen kommunistischen Bannern bedeckt; das Wahrzeichen eines vereinigten tschechoslowakischen Staates war so gut wie nirgends zu finden.
Das Ergebnis der Gespräche in Moskau wurde am 4. April 1945 in Košice bekannt gegeben. Die Interimsregierung sollte aus drei Repräsentanten jeder der vier großen tschechischen Parteien und
der beiden slowakischen bestehen. Ferner gab es sechs parteilose Berufene, dazu Beneš. Auch wenn die Machtverteilung auf den ersten Blick gerecht scheint, verschaffte sie doch den Kommunisten so gut wie alles, das sie gewollt hatten. Direkt oder indirekt kontrollierten sie den Regierungschef und die meisten Schlüsselministerien. Der neue Posten des Staatssekretärs für auswärtige Angelegenheiten wurde ebenfalls geschaffen und mit Vlado Clementis besetzt, ein Freund meines Vaters, aber dennoch ein Kommunist. Seine Aufgabe war es, seinen nominellen Vorgesetzten, den Außenminister Jan Masaryk, im Auge zu behalten.
In Moskau begegnete Masaryk zum ersten Mal Gottwald. Die beiden teilten eine tiefe Liebe für tschechische Volkslieder – sowie eine spontane beiderseitige Abneigung. Sie redeten einen ganzen Nachmittag miteinander, ohne sich zu einigen. Gottwald beschwerte sich, dass die von der Londoner Exilregierung praktizierte Außenpolitik nicht ausreichend prosowjetisch gewesen sei. Das müsse sich ändern, forderte er hartnäckig, eine völlige Kooperation sei nötig. Gottwald sagte, er habe seine Zweifel, ob Masaryk das verstehe, worauf Jan Masaryk erwiderte, dass er durchaus Verständnis dafür habe, aber nicht versprechen könne, sich danach zu richten. In einer Zusammenfassung des Meinungsaustauschs für Beneš wies Masaryk darauf hin, dass seinerzeit, als sein Vater Präsident war, niemand es gewagt habe, den alten Masaryk zu kritisieren, stattdessen sei man über Beneš, den Außenminister, hergezogen. Nun, da Beneš Präsident sei, befinde er, Masaryk junior, sich auf diesem Posten – und trage bildlich gesprochen eine Zielscheibe auf dem Rücken.
Nach der Bekanntgabe des Regierungsprogramms blieb Beneš in Košice und wartete dort die Endphase der Kämpfe ab. Auch wenn er der anerkannte Führer seines Landes und wieder auf eigenem Boden war, befand er sich keineswegs in einer Position, wo er das Sagen hatte. Die Sowjets übernahmen die Zuständigkeit für seine Sicherheit, steckten ihn in ein von Wachen umstelltes Haus und hinderten ihn daran, direkt mit London oder Prag Kontakt aufzunehmen. Unter dem Vorwand von Sicherheitsbedenken wollte
Moskau es auf keinen Fall britischen oder amerikanischen Diplomaten erlauben, ihn auf seiner Reise aus London zu begleiten oder sich in Košice mit ihm zu treffen. Wenn Beneš die neuesten Nachrichten hören wollte, musste er sich an den russischen Botschafter wenden, der ihm nur das mitteilte, was ihm klug erschien. Gegenüber seinen Mitarbeitern beklagte sich der tschechoslowakische Staatschef über diese erniedrigende Behandlung; vor den Sowjets hielt er sich allerdings zurück.
In Moskau hatte Stalin Beneš mit einem Siegesbankett bewirtet, untermalt von traditionellen Liedern, Geschichten, Volkstänzen und Trinksprüchen. In seinen Äußerungen hatte der Parteichef die gemeinsamen Interessen der beiden Länder hervorgehoben, die deutschen Ziele zu vereiteln, und hatte jeden Wunsch bestritten, den Kommunismus nach sowjetischem Vorbild über ganz Europa zu verbreiten. Stalin gelang es, seinen Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie hätten das Sagen, indem er ihnen einfach das erzählte, was sie hören wollten. An jenem Abend hatte er auch
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