Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
ausschlachten, dass die Amerikaner »in Pilsen gesessen und gemütlich ein Pilsener getrunken« hätten, während das Streben des Volkes nach Freiheit in Blut ertränkt wurde.
Die Auffassung hält sich hartnäckig. Wenn der Jahrestag des Aufstands gefeiert wird, verweisen Politiker noch heute auf Eisenhowers Versäumnis. Das gilt selbst in Plzeň, wo die einheimische Bevölkerung, wie ich selbst gesehen habe, viele US-Jeeps und Lastwagen aufbewahrt hat, die Pattons Männer zurückgelassen haben. Im Jahr 2010 sagte mir Václav Havel, dass eine Befreiung Prags durch Amerika »den ganzen Unterschied« ausgemacht hätte. Havel, dessen Familie den Krieg auf dem Land verbracht hatte, behielt das Kriegsende als eine Zeit der Unsicherheit in Erinnerung. Die Deutschen wurden vertrieben; sowjetische Soldaten liefen mit einem halben Dutzend gestohlener Armbanduhren an jedem Arm herum; und die Menschen kamen in Scharen aus den Wäldern und behaupteten, sie seien Widerstandskämpfer gewesen, obwohl es sich in manchen Fällen um Banditen handelte. Ein tschechischer Pilot, der aus England zurückkehrte, landete sein Flugzeug nicht weit von Havels Haus auf einer Wiese. Die ganze Stadt bereitete ihm ein Willkommensfest; es gab gefüllte Eier mit Ketchup und Salat.
Zu den in Košice vereinbarten Grundsätzen zählte die Absicht, die neuen tschechischen und slowakischen Streitkräfte nach dem Vorbild der Roten Armee auszubilden und auszurüsten. In der Praxis hieß das, dass die in Russland lebenden Exiltschechen den Kern des neuen Militärs bildeten, während die Soldaten und Piloten, die für die Briten gekämpft hatten, gemieden wurden. Die Kommunisten wollten das Monopol auf eventuelle Kriegshelden haben und erklärten deshalb das Militär mit Sitz in London kurzerhand zu einem Instrument der kapitalistischen Unterdrückung. Nach wenigen Jahren musste die Mehrheit der Männer, die so tapfer gemeinsam mit der RAF gekämpft hatten, wiederum ins Exil gehen, oder sie landeten – wie der Pilot, der von Havel und seiner Gemeinde gefeiert worden war – im Gefängnis.
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UNGEFLICKT
Im Juli 1945 kehrte ich im Frachtraum eines RAF-Bombers in das Land meiner Geburt zurück. Ich war acht, meine Schwester Kathy erst drei; wir kauerten uns zwischen meine Mutter und meine Cousine, die inzwischen 17-jährige Dáša. Die Sitze – genaugenommen harte Bänke – befanden sich in Nischen, in denen in der Regel Bomben aufbewahrt wurden. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Flugzeug klapperte und bebte; von den gut 40 Passagieren wurde vielen schlecht, und ich hatte noch Jahre danach eine Heidenangst vor dem Fliegen. Uns drehte sich der Magen um, als der Pilot über dem völlig zerstörten Dresden unvermittelt tiefer ging. Während der Bombardierung Dresdens im Februar dieses Jahres hatte die US Air Force 150 Tonnen Bomben auf Prag abgeworfen. Es waren keine militärischen Ziele getroffen worden, aber 500 Menschen waren umgekommen. Offensichtlich hatten die Piloten irrtümlich die tschechische Hauptstadt für Dresden gehalten.
Mein Vater, der schon im Mai zurückgekehrt war, holte uns am Flugplatz ab. Er war beunruhigt darüber, wie weit weg von den Empfangseinrichtungen man das Flugzeug gelotst hatte, um seine Fahrgäste zu entlassen. Die britischen Piloten wurden nur auf die abgelegensten Landebahnen zugelassen, ein beunruhigendes Zeichen, wie allgegenwärtig die sowjetische Präsenz inzwischen war. Aber immerhin landeten wir sicher; zwei Monate später stürzte ein ähnlicher Flieger mit Heimkehrern ab, alle Insassen an Bord kamen dabei ums Leben.
Bei Kriegsende war Dáša hin- und hergerissen, was sie tun sollte. Sie hatte das vergangene Halbjahr an einer Schule in Wales verbracht, die man eigens für tschechische Schüler eingerichtet hatte. Nachdem sie gezwungen waren, jahrelang Englisch zu sprechen, ermunterte man die Jugendlichen nunmehr, zur Vorbereitung
auf die Heimkehr ihr Tschechisch aufzubessern. Die verständlicherweise verwirrten Schüler erfanden eine Sprache, die halb die eine, halb die andere war und nannten sie »Tschechlisch«.
Als die Abreise näher rückte, zögerte Dáša. Onkel Honza und Tante Ola hatten ihr angeboten, bei ihnen in England zu bleiben, statt sich den Unwägbarkeiten des Nachkriegs-Prags auszusetzen. Aber gerade eine dieser Ungewissheiten ging Dáša einfach nicht aus dem Kopf. Wie andere Exiltschechen hatte sie nervenaufreibende und oft frustrierende Besuche beim Roten Kreuz hinter sich, um über das
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