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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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einmischen, die zuvor von den militärischen Befehlshabern vereinbart worden waren. Die Situation änderte sich kaum, als General Pattons 3. Armee, die in Österreich einrückte, auf der Nordflanke Deckung brauchte. Der oberste Befehlshaber der Alliierten Dwight D. Eisenhower bat die Sowjets um die Erlaubnis, Truppen nach Südböhmen zu entsenden. Dies wurde gewährt, und eine neue Einigung erreicht: Amerikanische Streitkräfte durften im Osten bis nach Plzeň vorrücken, rund 80 Kilometer vor Prag. Das taten sie in der ersten Maiwoche, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie lösten damit wilde Feierlichkeiten aus und sorgten dafür, dass die Ungeduld in allen tschechischen Landesteilen wuchs.
    Aus der einen Richtung rückten sowjetische Truppen in Richtung Hauptstadt vor, aus der anderen überschritten amerikanische Streitkräfte die Grenze. Der Sieg war zum Greifen nahe, aber die Schmach der Fremdherrschaft hatte immer noch Bestand. Deutsche
Soldaten standen immer noch an Prager Straßenecken. Eine Beleidigung des »Führers« war immer noch ein Verbrechen. Die Gestapo hob immer noch Partisanen aus und erschoss sie, während politische Häftlinge im Gefängnis saßen und jederzeit mit einer Hinrichtung rechnen mussten. Es war kein Wunder, dass die Menschen in Kellern und Dachkammern ununterbrochen Radio hörten und auf die Meldung hofften, dass die Deutschen kapituliert hatten. Ausländischen Rundfunkangaben zufolge hatte Hitler Selbstmord begangen; seine höchsten Berater waren tot oder auf der Flucht; das »Dritte Reich« brach zusammen; warum ging der Feind dann nicht endlich nach Hause?
    In den ersten Tagen des Monats Mai beschlossen die Menschen von Prag und anderen städtischen Zentren, nicht länger zu warten. Mit ganz spontanen Aktionen begannen sie, ihr Land wieder zurückzuerobern, indem sie deutsche Straßenschilder abrissen und Hakenkreuze durch tschechische Fahnen ersetzten. Ladenbesitzer und Straßenbahnschaffner weigerten sich, Reichsmark zu akzeptieren, während deutsche Soldaten schikaniert und wenn möglich entwaffnet wurden. Am Morgen des 5. Mai verbreitete der wichtigste Radiosender einen Appell: »Kommt und helft uns alle! Wir kämpfen gegen die Deutschen!« 5 Als SS-Truppen zur Sendestation stürmten, stellte sich die bislang friedliche städtische Polizei ihnen entgegen. Den ganzen Nachmittag über lieferten sich die beiden Seiten einen erbitterten Kampf. Mit der Verstärkung einer Wacheinheit, die über die Dächer das Sendegebäude erreichte, gelang es den Tschechen, die Deutschen in die Enge zu treiben und sie zur Kapitulation zu zwingen. Die Aufständischen brachten auch das Lautsprechersystem und die Telefonzentrale in ihre Gewalt. Am späten Nachmittag traf ein amerikanisches Aufklärungsteam mit Jeeps ein. Der Befehlshaber, ein Leutnant Fodor, erklärte sich bereit, nach Plzeň zurückzufahren und ein Gesuch um Unterstützung zu überbringen.
    Am selben Abend kabelte der SS-Kommandant vor Ort seinen Vorgesetzten, dass sich halb Prag bereits in den Händen der Aufständischen befinde, die erstaunlich gut kämpften, wie er kommentierte. 6 Tragischerweise dachten die Deutschen gar nicht daran, die Waffen
niederzulegen; sie mussten die Hauptstadt halten, um den allgemeinen Rückzug zu decken. Da sie sowohl über die nötigen Feuerwaffen als auch über Soldaten verfügten, schlugen sie zurück. Sie setzten Brandbomben ein, um Gebäude zu zerstören, und Panzerfahrzeuge, um die Straßensperren zu durchbrechen und so viele Menschen wie möglich zu töten. Die Aufständischen, die erwarteten, dass jede Minute Beistand seitens der Amerikaner eintreffen würde, wichen nicht zurück. Ganze Familien halfen beim Barrikadenbau aus Mülleimern, Sandsäcken, ausgerissenen Pflastersteinen, Balken und Matratzen mit. Um die Straßen zu halten, holten sie Munition hervor, die man zuvor in Fußböden, Gärten und sogar Särgen versteckt hatte. Als Krankenschwestern verkleidete Frauen gingen zum Bahnhof, wo sich seit Beginn der Besatzung unentdeckt ein Waffendepot befand. Die Frauen holten dort Körbe, die mit »Verbandsmaterial« beschriftet waren, aber beim Tragen ihre ganze Kraft beanspruchten.
    Die Tschechen sendeten wiederholt Hilferufe. Churchill telegrafierte nach Washington und drängte darauf, die 3. Armee einzusetzen. Der von Leutnant Fodor informierte Patton wartete nur darauf, den Wenzelsplatz zu besetzen. Eisenhower signalisierte dem sowjetischen Oberkommando seine Bereitschaft, Soldaten nach

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