Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Osten zu schicken. Die Russen erwiderten: Rücken Sie nicht weiter als bis Plzeň vor, sonst könnte es zu einer Vermischung der Truppen kommen. In diesem entscheidenden Moment gab der amerikanische General nach und fügte lediglich hinzu, dass er davon ausgegangen sei, dass »die sowjetischen Streitkräfte rasch vorrücken [würden], um die Lage im Zentrum des Landes zu klären«. 7
Dieser Notenwechsel bedeutete, dass die 3. Armee nicht nach Prag vorrückte; die Russen hingegen waren noch nicht so weit. ac Die Tschechen blieben auf den Barrikaden und kämpften verzweifelt. Am 7. Mai ermahnten die Führer der Aufständischen ihre Leute,
»standhaft zu bleiben und noch härter zurückzuschlagen. Möge jeder Schuss ein Ziel finden, möge jeder Schlag den Tod eures Bruders, eurer Schwester, Vater oder Mutter rächen. Heute Abend sollen alle Männer, Frauen, Jungen und Mädchen noch mehr und größere Barrikaden errichten, die kein Panzer durchbrechen und keine Granate durchdringen kann.« 8
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Bei den Barrikaden
Volle 24 Stunden nach der Kapitulation in Berlin tobte der Kampf in Prag weiter; Straßen wurden aufgerissen und Gebäude zerstört, darunter das Alte Rathaus, in dem meine Eltern zehn Jahre zuvor getraut worden waren. Bis zum Ende des Aufstands kamen rund 1700 Tschechen um. Schließlich wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, der den Deutschen freien Abzug gewährte. Am 9. Mai tauchten die ersten Einheiten der Roten Armee auf. Ein Zeuge schilderte das Schauspiel:
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Begrüßung der russischen Soldaten
Die Menschen strömten auf die Straßen, um ihre Befreier zu bejubeln, willkommen zu heißen und zu umarmen, luden sie zu sich ins Haus ein und boten ihnen alles an, was sie noch besaßen. Hübsche Mädchen schmückten die Panzer mit Blumen und kletterten auf die Panzerwagen. Die Russen lachten freundlich und holten ihr Akkordeon hervor. Die Welt war voller Wohlgerüche und Musik und Freude. 9
Später deuteten viele Autoren, auch mein Vater, das Versäumnis Eisenhowers, Soldaten nach Prag zu schicken, als Zeichen für die Gleichgültigkeit des Westens. Das ist nicht ganz fair. Beneš hatte nie für eine Befreiung durch die Amerikaner plädiert und hatte im Gegenteil kein Hehl aus seiner engen Beziehung zu Stalin gemacht. Überdies waren die Alliierten weder an der Planung dieses Gewaltausbruchs
in letzter Minute beteiligt gewesen, noch hatten sie dazu ermuntert. Eisenhower war im Begriff, die Kapitulation des Deutschen Reiches einzufädeln – und zwar um das Leiden aller Beteiligten zu lindern, auch der Prager. Der Sieg stand nur deshalb unmittelbar bevor, weil die sowjetische Armee, die zwei Millionen Mann in den Kampf geschickt hatte, Hitler daran gehindert hatte, weitere Truppen nach Westen in den Kampf zu schicken. Darüber hinaus waren die Anstrengungen der Alliierten eben deshalb so reibungslos vorangeschritten, weil sich alle Beteiligten, auch die UdSSR, an ihre Vereinbarungen gehalten hatten. Da der Krieg im Pazifik noch nicht entschieden war, hätte die Entscheidung, in diesem kritischen Augenblick das Vertrauen des Kreml zu missbrauchen, ein extrem hohes Risiko mit sich gebracht. In jedem Fall war Eisenhower nicht für die Politik zuständig. Dem General hatte man befohlen, die deutsche Wehrmacht zu schlagen und den Krieg zu einem frühen und siegreichen Ende zu bringen, nicht sich mit dem Kräftegleichgewicht nach dem Krieg zu beschäftigen. Dennoch geht aus den Quellen eindeutig hervor, dass Eisenhower bereit war, Patton zu entsenden, und das auch getan hätte, wenn die Sowjets nicht protestiert hätten. An dem, was in Prag geschah, trägt allein Moskau die Schuld.
Allerdings geht es bei der Schaffung nationaler Mythen selten fair zu. Symbole spielen hier eine Rolle, und manche Bemühungen – so weltfremd sie auch sein mögen – können nicht schadlos übergangen werden. Der Aufstand in Prag hatte aus taktischer Sicht wenig Sinn, besaß aber als Ausdruck eines aufgestauten Zorns seine eigene Logik, da er von einem Volk ausging, dem zuvor jede Gelegenheit zum Kampf verweigert worden war. Bei dem Aufstand ging es nicht um Vernunft, sondern um Courage und Ehre oder um das, was mein Vater im Zusammenhang mit dem Münchner Abkommen als »nationales Ethos« bezeichnete. So wurde der Mythos geboren, dass sich die Vereinigten Staaten in dem Moment von den Tschechen abgewandt hätten, wo diese sie am dringendsten gebraucht hätten. Jahrelang sollten die Kommunisten die Vorstellung
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