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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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wo Ata Moravec und Tausende andere gelitten hatten, wurde in der damaligen Form erhalten, die mit Schichten von Blut verkrustete Guillotine wurde jetzt von einer tschechoslowakischen Fahne und einem kleinen Kranz bedeckt. Die deutschen und ungarischen Minderheiten, die man einst für die tschechoslowakischen Demokratie hatte gewinnen wollen, standen kurz vor der Vertreibung durch Präsidialdekret. Von der obersten Hierarchiestufe bis nach unten beeilten sich die Sieger, die Kollaborateure zu bestrafen, und dienten so der Sache der Gerechtigkeit, schufen aber auch Gelegenheit zu Missbrauch und zu politischem Unheil.
    In seinen Schriften schildert mein Vater ein Land, das unter den Exiltschechen aus London und Moskau, den Widerstandskämpfern, den »Aussitzern«, den »Genossen« (die am meisten redeten) und den ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern (die am wenigsten sagten) gespalten war. Es war so viel geschehen, dass das Gefühl der nationalen Solidarität so gut wie verschwunden war. Zu viele Menschen hatten sich daran gewöhnt, Befehlen Folge zu leisten. Jene Tschechen, die die Besatzung überlebt hatten, hegten einen Groll gegen ihre Landsleute, die in England »sicher draußen« gewesen waren. Viele Exiltschechen, die an der Waffe gedient hatten, stellten die Tapferkeit jener in Frage, die daheim geblieben waren. Die Gräben zwischen diesen Gruppen, so klagte mein Vater, »waren tief, stets emotional, in manchen Fällen rational und selten überbrückbar«. 10
    Wie in Walton-on-Thames brachte mein Vater mich zur Schule. Der Unterschied war, dass ich in englischen Schulen aufgeblüht war, in den Prager Klassenzimmern verbrachte ich hingegen die meiste Zeit in der Ecke. Als meine Eltern sich erkundigten, woran das lag, wurde ihnen gesagt, ich sei arrogant gewesen. Inwiefern? Meine
Lehrerin erzählte, ich hätte ihr ein Kompliment für ein Kleid gemacht, das sie getragen habe – in England eine schlichte Höflichkeit, aber in der förmlicheren Atmosphäre der Tschechoslowakei eine allzu vertrauliche Äußerung für ein Kind. Zumindest habe ich die Episode so in Erinnerung behalten; wie dem auch sei, die Schule war für meinen Geschmack jedenfalls zu streng.
    Das Außenministerium, in dem mein Vater arbeitete, lag nur ein paar Straßenblöcke von unserer Wohnung entfernt und war im beeindruckenden Černín Palais untergebracht. Jahre später hatte ich Gelegenheit, den Palast mit dem amerikanischen Außenministerium zu vergleichen. Von außen ist das Černín Palais ein Paradebeispiel der Architektur des 17. Jahrhunderts, während das State Department einer übergroßen, ausrangierten Schachtel ähnelt. Ein Besucher im Palais wird von einer riesigen Halle mit einer Gewölbedecke, edlen Wandteppichen, antiken Möbeln und einer dramatischen Statue von Herkules im Kampf gegen die Hydra empfangen. Das State Department begrüßt seine Gäste mit Metalldetektoren und einem Sicherheitsschalter. Freilich sind die diplomatischen Empfangssäle ebenfalls prunkvoll, aber sie sind im siebten Stock versteckt und werden nur zu besonderen Anlässen oder bei Besichtigungen genutzt. Beide Gebäude bieten einen spektakulären Blick: Das State Department überragt das Lincoln Memorial, von dem tschechischen Gegenstück aus kann man hingegen eine historische Kirche bewundern, in der die Statue der Heiligen Kümmernis zu sehen ist. Der Legende nach handelt es sich um eine portugiesische Prinzessin, die die Heirat mit einem unerwünschten, heidnischen Bräutigam vermied, indem sie sich – mit Gottes Hilfe – über Nacht einen Bart wachsen ließ.
    Mein Vater half sowohl dem Außenminister Jan Masaryk als auch seinem Stellvertreter Vlado Clementis. Beide Männer hatten einen Mitarbeiter, der für Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, und es gab zwei Sekretärinnen, eine für Angelegenheiten auf Tschechisch und die andere für Slowakisch. Der Büroleiter war ein bewährter Staatsdiener von »zerbrechlicher Statur [mit] roten Backen, dünnen Lippen, einer spitzen Nase, mausgrauem Haar und kleinen grauen Augen«. 11 Diese schmeichelhafte Beschreibung stammt mit freundlicher Genehmigung von Hana Stránská, einer jungen Frau, die in
London im Stab meines Vaters beschäftigt gewesen war und die nun auch in Prag für ihn arbeitete. Die 27-jährige Stránská war meist als Übersetzerin für Englisch tätig, half aber auch bei der Bewältigung der Papierflut auf Tschechisch mit.
    Zu den Aufgaben meines Vaters zählte die Organisation

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