Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Schicksal ihrer Familie so viel wie möglich herauszufinden. Seit Jahren waren keine Briefe mehr gekommen. Die Meldungen über das Schicksal der Juden in der Tschechoslowakei und anderswo waren furchtbar. An einem traurigen Tag erfuhr Dáša vom Tod ihrer Mutter und Schwester, aber man zeigte ihr auch eine Liste der Überlebenden, auf welcher der Name Rudolf Deiml stand. Damit war die Sache geklärt; sie würde nach Prag zurückkehren, um dort ihren Vater zu empfangen, wenn er kam. »Ich musste gehen und auf ihn warten«, sagte sie viel später zu mir, »weil wir doch wussten, dass alle anderen tot waren.«
In Prag wurde unserer Familie von der Regierung eine Wohnung im ersten Stock eines Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert mit Blick auf den Hradčany-Platz zur Verfügung gestellt. Die Wohnung war geräumig, hatte große helle Zimmer, einen Kamin, eine hübsche Einrichtung und mit Efeu bedeckte Balkone. Dáša hatte ein eigenes Schlafzimmer; ich teilte mir ein Zimmer mit Kathy. Ich liebte die Wohnung, wusste aber anfangs nicht so recht, was ich von Prag halten sollte. Walton-on-Thames, wo ich Freunde und Spielkameraden gehabt hatte, war hübsch und grün gewesen. Hier kannte ich niemanden. Die Straßen waren für meinen Geschmack häufig ein bisschen zu voll, und außerdem waren überall diese russischen Soldaten.
Aber es sollte nicht lange dauern, bis mich die Stadt in ihren Bann zog. Gegenüber der Straße lag ein kleiner Park, der dem Heiligen Johannes von Nepomuk gewidmet war, einem Mann, den die Katholiken ebenso sehr bewunderten wie die Protestanten Jan Hus. Während Hus den Märtyrertod starb, weil er die Autorität der Kirche
herausgefordert hatte, war Johannes nach der Legende von der Karlsbrücke gestürzt worden, weil er das Beichtgeheimnis gegen das Sakrileg weltlicher Herrscher verteidigt hatte. Auf Statuen und Porträts ist der Kopf des Heiligen in der Regel von einem Ring aus fünf Sternen umgeben, als Symbol für die himmlischen Zeugen seines Todes durch Ertrinken.
Wenn ich nicht im Park war, schlenderte ich munter quer über den Platz (ein langes Rechteck) zu der berühmten Burg, in der jetzt Beneš und seine Frau lebten. Die Wachen dort trugen edle Uniformen, und für eine Achtjährige gab es kaum einen größeren Spaß, als den Männern Grimassen zu schneiden, in der Hoffnung, dass einer mal den Mund verziehen würde, was sie aber nie taten.
Im Krieg hatten deutsche Ingenieure über 14 000 Kirchenglocken beschlagnahmt, in der Absicht, sie einzuschmelzen und Geschütze und Panzer daraus herzustellen. Jetzt beeilten sich die Gläubigen, die Glocken wieder in die richtigen Türme zu bringen. Prag hatte zwar ebenfalls Kämpfe gesehen, vor allem in den letzten Tagen, aber der größte Teil der prächtigen Architektur aus dem Barock, der prunkvollen Paläste und der mit Schiefer gedeckten Mietshäuser war unversehrt. Das Straßenpflaster, das man herausgerissen hatte, wurde schnell repariert, und die Straßenbahnen rumpelten wiederum durch das Labyrinth von Straßen aus der Altstadt in die Neustadt. Die Läden hatten immer noch ihre charakteristischen, handgearbeiteten Schilder, die den Schuhmacher vom Apotheker und den Fleischer vom Bäcker unterschieden. Ob von einer Brücke oder von der hohen Burg aus, ich genoss es, auf das gemächlich dahinfließende Wasser zu blicken und die herabstürzenden Möwen zu beobachten, die Angler in ihren kleinen Booten und die Lastkähne, die Wer-weiß-was nach Wer-weiß-wohin brachten. Jeden Abend bei Sonnenuntergang brannten die Straßenlaternen unter den Bäumen und den blühenden Büschen am Flussufer. Genau davon hatten meine Eltern, so dachte ich bei mir, gesprochen, als sie sich auf die Heimkehr freuten.
Natürlich begriff ich damals nicht, dass die Tschechoslowakei eine qualvolle Zeit durchgemacht hatte, die das Land für immer verändert hatte. 350 000 Zivilisten waren umgekommen, darunter rund 80 Prozent der Juden. Zehntausende von Häusern waren zerstört
worden. Viele große Fabriken hatte man bombardiert, und das Schienen- und Straßennetz des Landes war zerstört. Lebensmittel waren knapp. In der Hauptstadt hatten die heftigen Kämpfe der letzten Tage ihre Spuren hinterlassen. Auf den Straßen trugen Frauen, die die Konzentrationslager überlebt hatten, lange Ärmel, um die Narben und eintätowierten Nummern zu bedecken. Die neue Regierung beanspruchte Büroräume und Ministerien, die noch »nach den Nazis stanken«. Die Folterkammer der Gestapo,
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