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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Schlussfolgerung, die man aus den Beneš-Dekreten ziehen könnte, ist, dass die Anwesenheit einer deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei der Hauptgrund für den Zweiten Weltkrieg war. Das ist Unfug. Die Lage der Sudetendeutschen wurde gewiss von Hitler ausgenutzt, aber dafür trug er allein die Verantwortung; man kann nicht Tomáš G. Masaryks Traum von einem lebensfähigen multinationalen Staat daran die Schuld geben. Ohne Hitler und die wirtschaftlichen Rückschläge, die ihm viele Menschen in die Arme trieben, hätte die Tschechoslowakische Republik durchaus eine Erfolgsgeschichte werden können. Im Lauf der Zeit hätte
sich eine fleißige (wenn auch gelegentlich streitsüchtige) deutsche Minderheit als ein wichtiger Aktivposten entpuppen können. Ich hebe diesen Punkt deswegen hervor, weil er so wichtig ist, um die Geschichte zu verstehen; umso mehr weil multiethnische Kooperation noch heute für den Erfolg demokratischer Staaten auf der ganzen Welt entscheidend ist. Eine Verteidigung dieses Grundsatzes ist unerlässlich, wenn man, wie ich, überzeugt ist, dass die Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 nicht deswegen ein Grund zum Feiern war, weil sie ein tschechischer und slowakischer Staat war, sondern weil sie ein demokratischer Staat war – und dass München nicht deswegen eine Tragödie war, weil die Deutschen über die Tschechen triumphierten, sondern weil es den westlichen Demokratien an der nötigen Entschlossenheit mangelte, als sie mit dem Bösen eines rassistischen, totalitären Staates konfrontiert wurden.
     
    E he sich die wiederhergestellte Regierung ganz der Zukunft des Landes widmen konnte, musste sie zuerst einige Rechnungen der Vergangenheit begleichen. Das hieß, unabhängig von der Nationalität jene gerichtlich verfolgen, die Kriegsverbrechen begangen hatten. Zu diesem Zweck wurde ein Netz landesweiter, regionaler und lokaler Gerichte geschaffen, um Menschen für Aktionen zur Rechenschaft zu ziehen, die sie während des Konflikts ausgeführt (oder unterlassen) hatten. Die Liste potenzieller Verbrechen enthielt alles von Mord und Folter bis hin zu öffentlicher Unterstützung für den Feind. Diese Gerichte waren von sehr unterschiedlicher Qualität. Einige waren professionell; andere hatten nicht genügend geschulte Mitarbeiter und erhoben auch gar nicht den Anspruch eines ordnungsgemäßen Verfahrens. Viele angebliche Verstöße wie Kollaboration und Verbrüderung waren nur vage definiert. Es gab keinen Mechanismus, um zu gewährleisten, dass die juristischen Interpretationen und Strafurteile stimmig waren. Weil die Emotionen, insbesondere zu Beginn, so hohe Wellen schlugen, hatte die öffentliche Meinung einen starken Einfluss auf die Richter. Es gab auch Fälle von Juristen, die mit Hilfe ihrer Autorität Besitz beschlagnahmten, der anschließend auf Umwegen in die Hände ihrer Familienangehörigen und Bekannten geriet.
    In den ersten Wochen wurden Zehntausende verhaftet. Die Zustände in den schlecht ausgerüsteten und unhygienischen Gefängnissen wurden noch schlimmer, als neue Insassen hineingepfercht wurden. Um die Fälle möglichst rasch zu regeln, hatten weder die Verteidiger noch der Staatsanwalt das Recht, Berufung einzulegen, und Todesstrafen wurden innerhalb von zwei (oder auf ausdrückliche Bitte der Verurteilten drei) Stunden nach dem Urteilsspruch vollstreckt. ag Beneš hatte das Recht, die Verurteilten zu begnadigen, aber bei einem so kurzen Zeitfenster wurde selten davon Gebrauch gemacht. Als Folge richteten die Tschechen fast 95 Prozent der 723 verurteilten Gefangenen hin, eine höhere Quote als in jedem anderen europäischen Land. ah Das schuf ein weiteres Problem: der Bedarf an qualifizierten Henkern stieg rasant. Geschulte Leute waren selten, weil jene, die zugaben, dass sie während des Krieges (von den Nationalsozialisten) eingesetzt worden waren, höchstwahrscheinlich selbst gehängt werden sollten.
    In der Stimmung der Nachkriegszeit, die verständlicherweise sehr aufgeheizt war, ergaben sich Möglichkeiten, die in einer Demokratie für gewöhnlich nicht gegeben sind: Man konnte andere durch politische Denunziation vernichten. Ob die Anklagen wahr oder falsch waren, die Betroffenen wurden sofort in die Defensive gedrängt und konnten lange Zeit in Gewahrsam genommen, verhört, geschlagen und enteignet werden. Folglich konnte die Justiz von Leuten manipuliert werden, die so wütend oder opportunistisch waren, dass sie unerwünschten Bekannten, lästigen

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