Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Geschäftspartnern, lokalen Rivalen oder unbequemen Ehegatten das Leben zur Hölle machten.
Selbst Richtern, die sich bemühten, fair zu urteilen, fiel es schwer, die Wahrheit zu erkennen, wenn ein Nachbar den anderen aufgrund von Gerüchten, dem Hörensagen oder schieren Behauptungen denunzierte, die man nicht überprüfen konnte. Wie sollten
sie eine angemessene Grenze für die Schuld durch Komplizenschaft definieren? Was war mit den Freunden und der Familie der Kollaborateure oder mit Menschen, die vielleicht einmal einen Moment der Schwäche hatten, aber ein andermal dem Druck wacker standgehalten hatten? Was war mit Menschen, die unter Folter wichtige Informationen preisgegeben hatten oder weil ihre Liebsten bedroht wurden?
In einem Fall gestand ein Mann, dass er für die Gestapo gearbeitet hatte. Er hatte geholfen, antifaschistische Partisanen aufzustöbern und Juden ihren Besitz zu stehlen. Doch derselbe Mann hatte einer jüdischen Frau in seiner Wohnung Zuflucht gewährt, hatte sich geweigert, flüchtige Gefangene zu verraten, und hatte die Entlassung von Anführern des Widerstands aus der Haft bewirkt, die später in der slowakischen Regierung dienten. Der Schurke und Held in einer Person wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt.
D ie Nachkriegsjustiz in tschechischen Landen war ungerecht und chaotisch, aber sie war nicht schlechter als vergleichbare Bemühungen in den Nachbarländern. Als sich die Gemüter allmählich beruhigten, lehnten die Staatsanwälte mehr Fälle ab, als sie verfolgten. Es gab viele Freisprüche, und der Druck, lange Haftstrafen zu verhängen und immer mehr Prozesse zu führen, ließ nach, vor allem nach Abschluss der prominentesten Fälle. Zumindest bei diesen außerordentlich stark publik gemachten Fällen kann man durchaus davon ausgehen, dass der Gerechtigkeit gedient wurde.
Unter den Angeklagten, die zum Tode verurteilt wurden, befand sich Karl Rahm. Der letzte Kommandant Theresienstadts hatte unzählige Gefangene in den Tod geschickt hatte. Der Prozess gegen Karl Hermann Frank, den Sudetendeutschen, der eng mit Hitler zusammengearbeitet hatte, wurde live im Rundfunk übertragen. Unter den Zeugen der Hinrichtung waren sieben Frauen aus Lidice. Sechs Gestapo-Offiziere, die an dem Massaker teilgenommen hatten, wurden ebenfalls zum Tod verurteilt. Der Ankläger in diesen Fällen war trefflich gewählt: Jaroslav Drábek, ein Freund meines Vaters vor dem Krieg, Mitglied des Widerstands und Überlebender von Auschwitz.
Im April 1947 sprach der Staatsgerichtshof in Bratislava Pater Tiso des Hochverrats schuldig. Beneš trat für eine lebenslange Haft ein, beugte sich aber seinem Kabinett, das – mit einer Mehrheit von nur einer Stimme – für die Hinrichtung plädierte. Tiso wurde gehängt und anschließend heimlich beerdigt, damit sein Grab nicht zu einer Pilgerstätte für die Slowaken wurde.
Karel Čurda, der Fallschirmspringer, der die Mörder Heydrichs verraten hatte, wurde in den letzten Kriegstagen bei einem Fluchtversuch gefangen genommen. Weder die Belohnung, die er von den Nazis bekommen hatte, noch seine deutschen Ausweispapiere konnten ihn vor dem Prozess schützen. Als der Richter ihn fragte, wie er nur seine Freunde verraten konnte, erwiderte er: »Ich glaube, für eine Million Mark hätten Sie genauso gehandelt, Euer Ehren.« 23 Exakt zwei Stunden nach dem Urteilsspruch ereilte Čurda, der keine Reue zeigte und immer noch Witze riss, sein Schicksal.
Was Konrad Henlein betraf, den Führer der Sudetendeutschen, der den Tag herbeigesehnt hatte, an dem die ganze Tschechoslowakei in das Reich aufgenommen wurde, so erübrigte sich ein Prozess. Nachdem die US Army ihn in Plzeň gefangen genommen hatte, flehte er die Amerikaner an, ihn nicht an die Tschechen auszuliefern. Als sich abzeichnete, dass sein Gesuch abgelehnt würde, schnitt er sich mit einer Scherbe die Pulsadern auf.
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EIN LABILES GLEICHGEWICHT
D ie tschechoslowakische Demokratie starb mit München und wurde wiederauferweckt, als Beneš und seine Regierung nach Prag zurückkehrten. Keine drei Jahre später sollte sie erneut begraben werden. War dieser zweite Tod unvermeidlich, oder hätte die demokratische Tschechoslowakei, mit einer klügeren Führung und stärkerer Unterstützung von außen, überleben können?
Ich stellte diese Frage Václav Havel, der antwortete, dass ein Überleben in der Tat möglich gewesen wäre. »Die Trennlinie von Jalta war militärisch gedacht, nicht politisch«,
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