Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
versicherte er. »Beneš dachte, sein Land könne als Brücke zwischen West und Ost dienen, aber er fasste diesen Gedanken nicht in einen angemessenen Rahmen. Auf jeden Fall war er ein guter Diplomat und ein ausgezeichneter Außenminister in ruhigen Zeiten, aber er war nicht der beste Führer in einem hochdramatischen Moment.« 24
Stalin hätte keinesfalls der Behauptung zugestimmt, dass die Linie von Jalta nur militärisch gedacht war. In seinen Augen war überall dort, wo die Rote Armee einmarschiert war, das kommunistische System befugt, sich einzurichten. Die Tschechoslowakei sollte ein Versuchsgelände für die beiden Sichtweisen werden. Im Gegensatz zum übrigen Mittel- und Osteuropa blieb die Republik frei und konnte aussagekräftige Wahlen durchführen.
Bei den Wählern um Stimmen zu werben, kam den Kommunisten in der Tschechoslowakei nach dem Krieg nicht ungelegen. Immerhin bot ihre Ideologie doch ein Allheilmittel – zumindest glaubten das viele. Das alte Europa war durch die künstlichen Trennungen in Klasse und Nationalität gehemmt worden; die Nationalsozialisten hatten Menschen nach Religion und »Rasse« in Schubladen gesteckt. Die Kommunisten hingegen nannten sich gegenseitig Genossen und behaupteten, die Arbeiter unabhängig von
ihrer Herkunft zu repräsentieren. Diese egalitäre Einstellung passte gut zu dem Bild, das Tschechen und Slowaken von ihren eigenen früheren Rebellionen gegen den deutschen und ungarischen Adel hatten. Was könnte nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges besser sein, als eine Gesellschaft aufzubauen, die von den Geißeln der Armut und Privilegien frei ist? Die Stunde der Arbeiter war doch gewiss endlich gekommen, in der jene, die mit eigenen Händen schufteten, den gebührenden Lohn empfingen, während all jene, die von dem Schweiß und den Schwielen anderer profitierten, von ihrem hohen Ross heruntergeholt wurden.
Der Eintritt in die Partei war die Möglichkeit, zu einer Bewegung zu stoßen, die von den Strömungen der Geschichte gerade neuen Schwung erhielt; ein Mittel, um »den Sieg über die eigene Kleinheit« zu erringen, wie eine Frau sagte, die damals hineingezogen wurde. 25 Die Kommunisten erhoben ferner Anspruch auf die Achtung der Wähler. Hatten ihre Partisanen denn nicht am tapfersten gegen die Nazis gekämpft und hatte Stalin dem Land nicht in der kritischen Phase um München beigestanden? Hatte die Rote Armee nicht Prag befreit? Nach jahrelanger »arischer« Barbarei und anglosächsischer Gleichgültigkeit machte es da nicht Sinn, das Heil bei Mütterchen Russland zu suchen, der inoffiziellen Hauptstadt und Beschützerin aller Slawen?
Diese ruhmreiche und neue Welt konnte jedoch nur über einen politischen Wandel herbeigeführt werden, und dafür war Disziplin unabdingbar. Die Arbeiterrevolution konnte nicht beginnen, solange ihre Gegner – raubgierige Kapitalisten, reaktionäre Politiker und die dekadente Bourgeoisie – nicht besiegt waren. Der Sieg würde als ein Produkt peinlich genauer Planung und Vorbereitung eintreten, und zwar überall, vom kleinsten Wahlbezirk bis hin zur größten Stadt. Das erforderte Standhaftigkeit und, für die Ungläubigen, eine gehörige Portion Umerziehung. Schon während des Krieges hatten die tschechoslowakischen Kommunisten Vorkehrungen getroffen, um die am besten strukturierte politische Organisation zu werden.
Das in Košice im April 1945 verkündete Programm hatte zur Gründung von Verwaltungskomitees von der lokalen bis hin zur nationalen Ebene aufgerufen. Indem die alten Verwaltungsstrukturen
kurzerhand abgeschafft wurden, gelang es den Kommunisten, sich eine unverhältnismäßig starke Vertretung in den neuen zu sichern. Gottwald wies seine Mitarbeiter an, diese Komitees »zum Neuaufbau der eigentlichen Fundamente« des Staates zu nutzen. 26 Da die Partei wichtige Ministerien kontrollierte, war es den Funktionären möglich, bis tief in jedes Segment der Gesellschaft einzudringen. Diese Unterwanderung wurde durch ein allgemeines politisches Klima erleichtert, das eine zentralisierte Staatsgewalt begünstigte; es meldeten sich kaum Stimmen zu Wort, die für den Kapitalismus plädierten. Die neue Regierung verstaatlichte rasch Banken, Bergwerke, Versicherungsgesellschaften, Versorgungsbetriebe und große Unternehmen. Diese Maßnahmen stießen kaum auf Widerstand, weil die vorigen Besitzer, in den meisten Fällen, NS-Sympathisanten gewesen waren und deshalb nicht in der Position waren zu protestieren.
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