Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Vaters nach der Ankunft in Belgrad, dem Regierungschef seine Referenzen vorzulegen. Während er in einer Eingangshalle wartete, wurde er beinahe von Tiger, dem stürmischen Deutschen Schäferhund Titos, über den Haufen gerannt. Als der Regierungschef endlich kam, fiel meinem Vater auf, dass er kleiner und stämmiger als erwartet war, den Mund schnell zu einem Lächeln verzog und in seiner Uniform und den hohen Stiefeln eine beeindruckende Figur machte. Der 53-jährige Partisanenführer hatte regelmäßige Gesichtszüge, abgesehen von einer etwas vorspringenden Nase und trieb, trotz seines Bauches, aktiv Sport, unterhielt einen Stall voller Pferde und ging gerne angeln und jagen. Mein Vater hatte mehrmals Gelegenheit, sich mit Tito zu unterhalten, und diskutierte mit ihm über sämtliche Aspekte der Weltlage, auch die Möglichkeit einer Koexistenz zwischen dem Osten und dem Westen. An einem Abend lud der Diktator meinen Vater in seinen Wohnsitz ein, wo genau wie im Weißen Haus auch eine Kegelbahn zu finden war. Als der Botschafter
die Kugel mit der linken Hand nahm, applaudierte sein Gastgeber und scherzte, mein Vater sei ein geborener Linker. Als die Kugel rollte, rief er jedoch aus: »Aber seht euch das an. Sie zieht verdächtig nach rechts!« 29
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Tito und Josef Korbel
Als Kind eines Botschafters hatte ich das Privileg, in einem Haus zu wohnen, das sowohl die Botschaftsräume als auch unseren Wohnbereich enthielt. Das Gebäude, das an einer Hauptstraße lag, war nur ein oder zwei Blöcke vom jugoslawischen Parlament entfernt. Die Front des Botschaftsgebäudes beherrschte der lange Balkon, von dem aus mein Vater vor dem Krieg Demonstrationen verfolgt hatte und wo wir jetzt bei Reden und Paraden standen. Eine Wendeltreppe führte in die privaten Räume, die drei Stockwerke einnahmen. Uns wurden ein Butler, ein Chauffeur, ein Koch und mehrere Dienstmädchen zur Verfügung gestellt. Im Empfangsbereich befand sich ein Ballsaal mit Kristallleuchtern und reichlich Marmor. Bei unserem Einzug stellte mein Vater entsetzt fest, dass die Außenwände mit Pro-Tito-Parolen bedeckt waren. Er befahl, sie zu entfernen, aber schon nach wenigen Tagen waren die Partisanensprüche wieder da.
Die noble Umgebung kaschierte die wirtschaftliche Not, mit der meine Familie zu kämpfen hatte. Die Botschaft war von den Deutschen genutzt worden und war, vor unserer Ankunft, massiven Plünderungen zum Opfer gefallen. Meine Eltern mussten um Möbel aus Prag bitten, das erste von einer endlosen Reihe von Hilfsgesuchen, um die Kosten dieses Postens zu bewältigen. In diesen bedrängten Verhältnissen mussten wir alle unser Scherflein beitragen.Von mir wurde erwartet, dass ich die Landestracht trug (weiße Bluse, rosafarbener Rock, blaue Schürze, reichlich Stickerei und Bänder) und bei Festen Blumen verteilte. Das Kostüm, das eigentlich slowakisch, nicht tschechisch war, erwies sich als Überlebenskünstler und hängt noch heute bei mir im Schrank.
Das Leben eines Diplomaten im Ausland passte zu meinem Vater. Es stimmt, dass er viel Zeit an seinem Schreibtisch mit dem Lesen und Kommentieren von Dokumenten verbringen musste. Das weiß ich, weil ich unter seinen Habseligkeiten in meiner Garage dicke Ordner mit gelbem offiziellem Briefpapier fand. Sein Hauptinteresse war es jedoch, mehr über die jugoslawische Bevölkerung zu erfahren. So oft er konnte, brach er aus seinem Büro aus, um das Land zu erkunden und sich mit Vertretern der vielen ethnischen Gruppierungen und politischen Fraktionen zu treffen. Unabhängig von dem Publikum redete und sondierte er gerne, drängte die Menschen sanft, ganz offen über ihre Enttäuschungen, Hoffnungen und Ängste zu sprechen. Er war ein geschickter Fragensteller, mitfühlender Zuhörer und wissbegierig. Er sprach mit Serben, die sich bitter über Massaker der Kroaten im Krieg und über die unaufhörliche Erosion ihrer nationalen Identität unter Tito beklagten. Er traf Kroaten, die sich schon damals gegen die Existenz Jugoslawiens aussprachen und sich ein eigenes Land wünschten; viele Bosnier und Slowenen dachten genauso. All dies dürfte einem Mann, der mitten in den ethnischen Rivalitäten der Tschechoslowakei aufgewachsen war, zugleich vertraut und bedrückend vorgekommen sein. Er entwickelte eine tiefe Zuneigung zu Serben und anderen Jugoslawen, verzweifelte aber über ihre Unfähigkeit, in Harmonie zusammenzuleben – ein Mangel, der sich während meiner eigenen Jahre in der Regierung auf
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